Gesetz

Das Gesetz ist für den unnormalen, den gottfernen Menschen da

Der hebräische Ausdruck thora bedeutet: Lehre, Belehrung, Vorschrift; die griechische Bezeichnung nómos bedeutet: etwas Festgesetztes. Das deutsche Wort wirft ein besonders helles Licht auf die Sache: Gesetz ist das, was man setzt, was aber nicht ist.

Denn dass irgend etwas nicht ist, was sein soll - oder dass das, was ist, nicht so ist, wie es sein soll -, das ist überhaupt die Voraussetzung für die Entstehung eines Gesetzes. Ein Normaler braucht keine Normen, der Unnormale braucht sie. Richtige Brautleute haben keine Konvention für Verlobte nötig. Sie haben einen so engen Kontakt miteinander, dass sie es von selbst wissen, wie sie zueinander sein sollen, und es strömt so überquellend aus ihnen, dass sie es sich nicht durch ständiges Denken an die Sitte abzuzwingen brauchen.

Zwei Menschen, denen jener Sturm und Drang fehlt, werden in solch einem Fall nach der Konvention greifen und werden damit doch nur einen Schein dessen zustandebringen, was sein sollte. Das göttliche Gesetz wurde dem Menschen gegeben, weil er von Gott fern war, weil er keinen Kontakt mit seinem Schöpfer hatte, weil ihm das grosse Ergriffensein von der Gottesliebe fehlte. Darum musste er durch Belehrungen, Vorschriften, Satzungen erinnert, ermahnt, darauf gestossen werden: er solle an Gott denken und was er ihm schuldig ist tun.

Je ferner ein Mensch oder ein Volk von Gott ist, um so mehr Einzelvorschriften oder Einzelbelehrungen sind in seinem Leben nötig (die Zeitgenossen Jesu, die Häufung der Glaubensregeln im Lauf der Kirchengeschichte).

Im gottfernen Menschenleben hat das Gesetz eine grosse bewahrende Kraft

Das Gesetz hat eine grosse positive Bedeutung; es hat in der Geschichte eine mächtige bewahrende Kraft bewiesen. Ohne das Gesetz wären die gottfernen Völker und Menschen längst untergegangen in einem völligen Chaos wüster Triebe.

Das Gesetz hat die alttestamentliche Gemeinschaft »verwahrt« (aufbewahrt), bis Christus kam. Sie hätte sonst gar nicht so lange existiert (Gal. 3,23). Ohne die göttliche Lehre, die das Gesetz enthält, wäre im Lauf der Zeit die Erinnerung an Gott überhaupt erloschen. Wie der Knabe in den rebellischen Entwicklungsjahren eine feste Hand über sich braucht, mitunter auch ein unweigerliches Verbot, so braucht der gottentfremdete Mensch die Zucht der ganz bestimmten Vorschriften des Gesetzes (Gal. 3,24).

Das Gesetz ist aber doch nur ein Notbehelf: Es führt zu Schein und Kompromiss

Aber so notwendig das Gesetz unter solchen Umständen ist, es ist doch nur ein Notbehelf; es kann den Schaden nicht heilen. Gesetzliche Moral und gesetzliche Frömmigkeit (das heisst: der Gottesdienst der Gottfernen) sind ein Kompromiss, ein Zwitterzustand. Hier ist nicht das vollendet Böse, aber noch weniger ein echtes Gutes.

Der äussere Rahmen des Lebens kommt in Ordnung, innen aber bleibt es wüst und leer (Matth. 23,27.28) trotz aller »Innerlichkeit.« Es ist der Schein da, als ob göttliches Leben erwacht wäre, und man lebt doch sein kleines Eigenleben weiter. Man kommt bei allem gesteigerten Beten, Fasten und Almosengeben nicht los von sich selbst; man dient damit einer handgreiflichen Eitelkeit (Matth. 6,1-18).

Beim gottfernen Menschen, der sich ans Gesetz hält, entsteht die Illusion, als könne er unterscheiden zwischen gut und böse: Er weiss ja Bescheid in allen richtigen Grundsätzen und Vorschriften. Und doch fehlt dem Gesetzesmenschen das Gericht (Matth. 23,23; Luk. 11,42), ihm fehlt im Leben die Einsicht und Kraft, das Gute vom Bösen, das Göttliche vom Widergöttlichen zu scheiden.

Beim Leben unter dem Gesetz entsteht die Einbildung, als wäre man göttlich orientiert über das, was zu tun und was zu lassen ist und wo man es anzufassen hätte mit dem Erfüllen des Willens Gottes, - und doch ist man ein Uneingeweihter, ein Knecht, der nicht weiss, was sein Herr will (Joh. 15,15); hat man eine führende Stellung, so ist man ein blinder Blindenleiter (Matth. 15,14). Man gleicht dem Soldaten, der zwar die Felddienstordnung genau kennt, dem aber das Kommando fehlt; dem Offizier, der freilich seine Taktik durchaus studiert hat, aber nicht in Verbindung steht mit der obersten Heeresleitung und der darum ratlos und ungenial handelt.

Das Gesetz zwingt zu uferlosem Hasten und Treiben, es zeitigt Quantität statt Qualität

Weil das Gesetz keine klare Orientierung gibt, wird der Gesetzesmensch von einer grossen inneren Unruhe getrieben. Weil er nicht weiss, was er denn eigentlich tun soll, tappt er hierhin und dorthin, kommt er (einzeln und kirchenweise) in ein nervöses Hasten und Jagen. Er gerät in ein endloses Vielerlei, so dass er nichts mehr ernst nehmen kann.

Der Pharisäer ist geplagt von den vielen Einzelvorschriften, der mittelalterliche Mönch von den vielen religiösen Übungen und der moderne Fromme von den unzähligen kirchlichen Organisationen und Unternehmungen. In jeder Art gesetzlicher Frömmigkeit sucht man durch gesteigerte Quantität die fehlende Qualität zu ersetzen. Man glaubt schliesslich selbst nicht mehr an den Sinn dessen, woran man so unsägliche Mühe wendet, und überredet doch immer aufs neue sich und andere dazu, es hätte einen Sinn und wäre eine Sache Gottes.

Man ist bei dem allen im tiefsten unfroh. Jesus bezeichnet diese Art Gottesdienst als Fasten (Matth. 9,14-17). Dieses kraft- und freudlose Vielerlei, dieses Uneingeweihtsein, diesen Unsieg auf der ganzen Linie nennt Paulus: Werke des Gesetzes. Er spricht mit starken Worten von ihrer völligen Aussichtslosigkeit (Römer- und Galaterbrief).

Vom Gesetz selbst denkt Paulus gross: es ist heilig, recht, gut, geistlich (Röm. 7,12-14). Es gleicht dem Rezept eines grossen Arztes. Aber so viel Weisheit es enthält - das Rezept als solches kann der Krankheit nichts anhaben.

Das Ernstmachen mit dem Sinn des Gesetzes führt zum Sterben aller ursprünglichen menschlichen Kräfte

Das gilt nicht nur von Einzelgeboten, sondern auch vom grossen Hauptgebot der Liebe. Gerade da, wo es dem Menschen nicht mehr um das einzelne zu tun ist, sondern ums Ganze, wo er nicht mehr in den Werken des Gesetzes (Quantität) untergeht, sondern um die Erfüllung seines Sinnes (Qualität) ringt, gerade da brechen aus unbewussten Tiefen letzte unheimliche Widerstände hervor.

Es geht nicht vorwärts, sondern rückwärts: Das Böse wird jetzt erst recht übermächtig. Das »Gute«, das man tut, ringt man sich unter schweren inneren Kämpfen ab, und darum ist es kein Gutes. Was noch an Natürlichkeit, Ursprünglichkeit, Lust zum Guten da war, geht immer mehr verloren und erstirbt schliesslich völlig (Röm. 5,20; 7,8ff.).

Wer das Gesetz ernst nimmt, bricht einmal durch seine Schranken

So kommt es, dass der Mensch durch das Gesetz dem Gesetz stirbt (Gal. 2,19), durch das letzte Ernstmachen mit dem Sinn des Gesetzes völlig am Gesetz als einem Ausweg aus seiner Not verzweifelt.

Er gibt es endgültig auf, eine göttliche Qualität, die in ihm nicht vorhanden ist, aus sich herauszwingen zu wollen. Er ist jetzt offen dafür, dass nur ein göttlicher Überfluss, der von oben kommt, ihm diese Qualität geben kann. Er ist dem Gesetz gestorben, damit er Gott lebe (Gal. 2,19), das heisst, er ist ausgebrochen aus dem Zustand, in dem er als Gottferner göttlich leben wollte (mit Hilfe von Selbsterziehung, Übungen, Leistungen, Steigerungen); er hat es erfahren, dass nur der Gottnahe (Gottverbundene, Gottberührte, Gottbelebte) göttlich lebt. Sein einziges Augenmerk ist nun, in der Nähe Gottes zu sein, die Verbindung nach oben zu haben, sich von dort leiten, erleuchten, erfüllen zu lassen.

Ist ein Mensch so gotterfüllt, so wird durch ihn das Gesetz erfüllt (Matth. 5,17; Röm. 8,4; 13,10). Im Gegensatz zum Gesetz stehen: Geist (Röm. 8,4), Glaube (Röm. 3 und oft), Liebe (Röm. 13,10), Gnade (Joh. 1,17).

Vom Gesetz zur Freiheit

Das leuchtet ein, denn Heiliger Geist ist Hereinragen der Gottheit ins Menschenleben, Glaube ist Anschluss des Menschen an den Schöpfer, Liebe ist Ergriffensein von der Herrlichkeit des Nahen; Gnade ist unmittelbares Sichschenken des Vaters.

Wo es das gibt, da ist das Gesetz (der gottferne Gottesdienst) zu Ende (Röm. 10,4). Da ist nicht mehr Altes Testament, sondern Neues Testament - der neue Bund (Jer. 31,31-40), der allen Zwang und alle Belehrung unnötig macht. Die Braut braucht weder Regeln, wie sie sich zu ihrem Verlobten verhalten soll, noch Unterweisung darüber, wer er sei. Würde sie nach dem einen oder anderen fragen, so wäre das ein Zeichen, dass sie innerlich von ihm gelöst ist.

Datum: 10.12.2009
Autor: Ralf Luther
Quelle: Neutestamentliches Wörterbuch

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