Wer mehr weiss, ist klar im Vorteil

In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts war das Unternehmen für Fotobearbeitung und Druck, dessen Inhaber meine Frau und ich waren, eines der ersten, das sich einen Kodak Royalprint Druckprozessor angeschafft hat. Da das Kopieren und Wiederherstellen alter Fotos schon damals einen grossen Teil unseres Geschäfts ausmachte, fand ich schnell heraus, wie ich mithilfe des Prozessors Sepia (braun gefärbte) Fotos erstellen kann.

Einige Jahre später, als ich auf einem Kodak Seminar war, fragte jemand, ob man auf dem Royalprint auch Sepia Fotos erstellen könne. Der Technikexperte von Kodak entschuldigte sich und meinte, dass das nicht möglich sei.

Ich befand mich in einem Dilemma. Sollte ich den Leuten von Kodak sagen, dass sie nicht recht haben, oder sollte ich mein Wissen verschweigen? Ich entschied mich für Letzteres, da ich weder eine rechtliche noch eine ethische Verpflichtung hatte, Kodak über Möglichkeiten ihres Prozessors zu informieren, von denen sie nichts wussten. So konnte ich Tausende von Dollar mit etwas verdienen, von dem die damals zu den 500 umsatzstärksten Unternehmen der Welt zählende Firma sagte, dass es unmöglich sei.

Ich hatte «Insiderwissen» entdeckt, von dem niemand bei Kodak etwas ahnte. Da ich nicht bei Kodak angestellt, sondern lediglich ein Kunde war, war es nicht in meiner Verantwortung, sie über etwas zu informieren, was sie selbst hätten herausfinden müssen.

Dies wirft einige Fragen auf. Hatte Kodak es nicht versucht, und warum haben die Leute im Publikum nicht selbst mit der Maschine experimentiert? Die Lektionen, die ich gelernt habe, sind, dass «Experten» oft falsch liegen und man nicht alles glauben kann, was man hört oder liest. Manchmal lohnt es sich, den Dingen selbst auf den Grund zu gehen.

Ich weiss inzwischen, dass viele kleine Unternehmen nur deswegen Erfolg haben, weil sie etwas tun, was ein grosses Unternehmen nicht tun kann bzw. einfach nicht tut.

Der alte Prozessor ist mittlerweile mit Fortschreiten der Technik überholt, und Kodak ist Konkurs gegangen und aus verschiedenen Gründen in der Fotoindustrie in der Bedeutungslosigkeit versunken. Aber in meinem jetzigen Fotogeschäft stelle ich immer noch alte und beschädigte Fotos wieder her. Eastman Kodak war früher mein grösster Lieferant; die einzigen Kodak Produkte, die ich heute noch habe, befinden sich in einer Vitrine mit Antiquitäten. Das Leben und die Arbeit nehmen manchmal ungeahnte Wendungen.

Ich denke, die Moral dieser Geschichte ist einfach, aber tiefgehend. Es trifft auf jeden im Geschäftsleben zu, egal in welchem Bereich man arbeitet: Probiere Neues aus, gehe in neue Richtungen und höre nicht auf die Neinsager, die behaupten, dass etwas nicht möglich sei oder auf die Zauderer, die sich fürchten, hinauszugehen, ein Risiko auf sich zu nehmen und ihrer Leidenschaft zu folgen.

In Sprüche 29,18 heisst es, «Ohne die Weisung von Propheten verwildert ein Volk.» Wenn ich nicht die Zusatzmöglichkeiten des Fotodruckprozessors entdeckt und damit experimentiert hätte, wäre ich zwar nicht «verwildert».

Aber ich hätte auf einen grossen Teil meines Einkommens verzichten müssen sowie auf die Befriedigung, etwas herausgefunden zu haben, was selbst der Hersteller nicht herausgefunden hatte. Allein das macht schon einen Teil des Reizes aus, Unternehmer zu sein.

Datum: 20.05.2013

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