Sich ins Beten einüben

„Denk doch an mich“! Wie oft sagen wir das, wenn wir etwas Besonderes, etwas Unangenehmes oder Schweres vor uns haben. Das Bewusstsein, dass geliebte Menschen uns in einer schwierigen Situation nicht vergessen, schafft Verbundenheit, gibt uns Kraft.

Eine Bitte um das Daran denken enthält auch der Psalm 25: „Denk an dein Erbarmen und deine Liebe, die du schon immer bewiesen hast“ (V. 6). Aus anderen Versen geht hervor, dass der Beter die Orientierung verloren hat und nach dem Willen Gottes für seinen Weg sucht. Und wenn ein Mensch Gott an sein Erbarmen und an seine Liebe erinnert, versteht es sich eigentlich von selber, dass er in einer Situation ist, in der er Gottes Erbamen und Liebe nicht mehr gewiss ist. Gott als Liebender ist ihm abhanden gekommen.

Für den biblischen Beter ist es eine Selbstverständlichkeit, sich in dieser Situation an Gott zu wenden. Dieses Grundvertrauen, von dem sich der Beter getragen weiss, ist für uns Menschen der Moderne keine Selbstverständlichkeit mehr. Wenn wir ganz unten sind, können wir meist auch nicht mehr beten. Wir müssen zuerst etwas finden, das die Enge der inneren Versklavung an unsere Not aufzubrechen vermag.

Der Dichter Rainer M. Rilke beschreibt in einem Brief an seinen Verleger, dass ihm das Psalmenbuch eine Hilfe in allen Erfahrungen ist: „Ich habe die Nacht einsam hingebracht in mancher inneren Abrechnung und habe schliesslich beim Schein meines noch einmal entzündeten Weihnachtsbaumes die Psalmen gelesen, eines der wenigen Bücher, in denen man sich restlos unterbringt, mag man noch so zerstreut und ungeordnet und angefochten sein“.

In den Psalmen kann ein Mensch sein ganzes Leben mit allen Erfahrungen unterbringen. Es ist schon einiges erreicht, wenn die Not, die uns bedrängt, nicht mehr das ganze Denken und Fühlen bestimmt. Vertrauen als Grundhaltung wird uns nicht einfach geschenkt, sondern ist oft das Ergebnis eines harten Ringens. Das Psalmengebet ist eine vorzügliche Schule, uns in diese Haltung einzuüben.

Datum: 12.09.2008
Autor: Roman Angst
Quelle: Bahnhofkirche Zürich

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