Sieben Aspekte eines authentischen Gemeindelebens: Die Gemeinde - ein Netzwerk lebendiger Beziehungen

Es klingelte laut und schrill.

Vor der Türe stand die hochschwangere Nelly mit ihrem Sohn Jonathan. "Können wir hereinkommen? Wir werden nie mehr in das Haus der Nachbarn zurückkehren", erklärte die 29-jährige Nelly ganz nervös.

Was war geschehen? Nelly war eine Asylbewerberin aus dem Kongo. Kurz nach ihrer Ankunft kam sie auf Grund ihrer Schwangerschaft in eine Familie in unserer Nachbarschaft. Die kulturellen Unterschiede waren jedoch unüberbrückbar; Nelly fühlte sich abgelehnt, unverstanden und einsam. So kam sie von Zeit zu Zeit zu uns, wo sie sich auch wegen unseres gemeinsamen Glaubens besser verstanden fühlte.

Nun war die Situation bei den Nachbarn war eskaliert. Es war zu einem heftigen Ehestreit gekommen, und Nelly war davon überzeugt, dass sie der Grund dieser Auseinandersetzung gewesen war.

Aufgelöst sass sie in unserem Wohnzimmer. "Nein, ich werde nicht zurückgehen. Lieber sterbe ich!" Wir hielten Familienrat. Unsere fünf Kinder waren sofort dazu bereit, Nelly, ihrem Sohn Jonathan und dem ungeborenen Baby neues Zuhause zu geben. Nach einem klärenden Gespräch mit den Nachbarn zog sie mit dem wenigen, das sie besass, bei uns ein.

Kurze Zeit später brachte Nelly ihren Sohn Samuel zur Welt. Da die Beziehung zu uns so gut war, wollte sie unbedingt Georgia, die sie in der Zwischenzeit "Mama Georgia" nannte, bei der Geburt dabei haben.

Wir waren also plötzlich ein zehnköpfiger Haushalt mit nur einem Badezimmer. Alle mussten lernen, aufeinander Rücksicht zu nehmen und einander Freiräume zuzugestehen. Wir sprachen fortan am Tisch nicht mehr Deutsch, sondern Französisch, damit sich Nelly und ihre Kinder wohl fühlten. Wir lernten die kongolesische Küche kennen und wurden in afrikanische Erziehungsmethoden eingeführt.

Mit Nelly wurden wir aber auch Teil einer erweiterten Familie. Sie hatte viele Freunde unter den afrikanischen Asylbewerbern, die uns regelmässig besuchten. Wir feierten Geburtstage und andere Feste mit bis zu 30 Afrikanern, tanzten und beteten nächtelang. Das Bild unserer Familie hatte sich verändert.

Als Nelly nach zwei Jahren in der Schweiz etwas Fuss gefasst hatte, eröffnete sie einen afrikanischen Laden in Bern und zog aus.

Nelly sagt heute, dass die Zeit in unserer Familie für sie der Weg in die Freiheit war. Auch für uns wurde das Zusammenleben mit Nelly und ihren beiden Söhnen zu einer unvergesslichen Erfahrung. Unsere Kinder empfanden diese Zeit rückblickend ebenfalls als einen wertvollen Teil ihrer Kindheit. Darüber hinaus ist in der Zwischenzeit durch die Flüchtlinge, die bei uns ein- und ausgingen, in Bern eine französischsprachige Gemeinde entstanden. Andere ehemalige Freunde unter den Asylbewerbern haben Gemeinden in Kongo und Angola gegründet.

Unsere Bereitschaft, unser Leben mit Asylbewerbern zu teilen, hat viel Frucht gebracht.

Datum: 29.05.2006
Autor: Martin Bühlmann
Quelle: Gemeinde leben - Gemeinde lieben

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