Arme Eltern – arme Kinder

Armut wird nicht vererbt. Aber sie wird weitergegeben, immer mehr und immer länger. Und immer häufiger sind Kinder und Jugendliche davon betroffen.
Arme Eltern – arme Kinder
Armut wird nicht vererbt.

„Natürlich hatten wir auch früher einzelne ‚Fürsorge-Dynastien’“, erzählt Rolf Maegli, Leiter des basel-städtischen Sozialamts. Aber heute habe dieses Phänomen „ein anderes Gewicht“. Die Statistik gibt ihm Recht. In den grösseren Städten hat jeder zehnte junge Erwachsene zwischen 18 und 26 Jahren schon einmal Fürsorgeleistungen bezogen – deutlich mehr als in allen anderen Altersklassen.

Gleichzeitig haben diese jungen Leute auch schlechtere Perspektiven als früher, wie Michael Hohn vom Berner Sozialamt feststellt. Wer noch dazu ohne Schulabschluss dasteht, für den ist es ein steiniger Weg, aus der Armutsfalle wieder herauszufinden. Das schlägt sich auch in den Arbeitslosenzahlen nieder. Während der Anteil der Arbeitslosen landesweit 3,8 Prozent beträgt, so beläuft er sich unter den 15-24jährigen auf 5,1 Prozent im Durchschnitt des Jahres 2005. Auch die Fürsorgekosten der Gemeinde sind im abgelaufenen Jahr weiter angestiegen.

Das Selbstvertrauen bleibt auf der Strecke

Besonders auffällig: Jeder dritte junge Erwachsene hatte schon als Kind zeitweise solche Gelder bezogen. Die Erklärung, die die Fachleute dafür finden, ist so einfach wie erschreckend: „Kinder orientieren sich stark an ihren Eltern“, meint beispielsweise der Stadtluzerner Sozialdirektor Ruedi Meier. Wenn eine schlechte soziale Stellung an deren Selbstwertgefühl genagt habe, dann blieben auch die Kinder davon nicht unberührt. Nach dem Soziologieprofessor Ueli Mäder können schon kurze Phasen der Armut das Selbstvertrauen der Kinder auf lange Zeit beeinträchtigen.

Ein weiterer erheblicher Grund für eine schlechte Startposition der jungen Leute ist ein fehlendes soziales Umfeld. Wenn die Eltern von der Existenzsicherung absorbiert waren, blieb nur wenig Zeit für eine eigentliche Erziehung. Viele waren (und sind) in ihrer Kindheit auf sich selbst gestellt. Eigenverantwortung übernehmen und nach Zielen leben, das wurde wenig eingeübt.

Soziale Kontakte ermöglichen

Viele Sozialämter wollen darum den Hebel bereits in diesem Alter ansetzen: mit „Extras“, die über die Lebenssicherung hinausgehen und soziale Kontakte ermöglichen, wie Musikunterricht und Skilagern, mit Beratungsgesprächen und einer Begleitung noch während der Schulzeit, spätestens in den Abschlussklassen.

Oder schon vor dem Eintritt in den Kindergarten. Darauf zielt ein Vorschlag des Luzerner Stadtrats Ruedi Meier: Kinder aus armen oder ausländischen Familien „in eine anregende Umgebung – etwa eine Spielgruppe – einführen“ und ihnen wenigstens hier einen strukturierten Tagesablauf ermöglichen.

Kommentar:

Der Griff nach der Familie

Eine ganz kleine statistische Angabe – und dahinter verbirgt sich gewaltiges Elend: Jeder dritte junge Erwachsene, der zum Sozialamt geht, hatte schon als Kind damit zu tun.

Die Schlussfolgerung ist naheliegend: Also muss man schon bei den Kindern ansetzen, damit die Armutsspirale nicht weitere Opfer nach unten zieht. Von Skilagern ist die Rede, die die Fürsorge übernimmt, und von strukturierten Tagesabläufen ausserhalb der Familie. Von einer Stärkung der Familien selber ist nichts zu vernehmen. Aber grade sie wären es, die die beste Erziehungsarbeit leisten können, die effektivste und langfristig wohl auch die billigste.

Armutsphasen bewirken offenbar einen langandauernden Schock. Mit mehr Geld in den Taschen der Eltern könnten die Kinder unbekümmerter aufwachsen. Steuerentlastungen für Familien sind das Gebot der Stunde. Der Familienbericht des Bundes aus dem Jahr 2004 stellt fest, dass sich zwischen 1990 und 2001 die Abgaben für Sozialversicherungen, andere Versicherungen, Steuern und Gebühren für eine Familie mit 3 Kindern verdoppelt haben! Die drohende Einzelbesteuerung wird diese Tendenz verschärfen.

Wer auf der einen Seite die Eltern schröpft, muss sich auf der anderen Seite nicht wundern, wenn diese auf einmal nicht mehr genug Zeit haben für ihre Kinder. Gegen diese schleichende Verwahrlosung helfen nicht vom Staat organisierte „strukturierte Tagesabläufe“ und gesellige Aktivitäten, sondern die Eltern selber müssen das ihren Kindern bieten können. Existenzsichernde Löhne und eine auch finanzielle Anerkennung der Familienarbeit sind dringend geboten.

Bedürftige Erwachsene dürfen nicht zum Vorwand werden dafür werden, dass man die Kinder schleichend verstaatlicht. Sondern diese Not ist ein Mahnruf zu einer tieferen Wurzelbehandlung: der Stärkung der Familien.

Quelle: Livenet / Tages-Anzeiger

Datum: 28.01.2006

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