"Wir brauchen alternative Modelle"

Chrischona-Direktor Markus Müller zur Krise des Sozialstaats

Das Dienen ist wieder zu entdecken – auch als Schlüssel für die Gemeinschaft. Ohne dienende Menschen bricht der Sozialstaat ein. Livenet hat mit Dr. Markus Müller gesprochen, seit Ende 2001 Direktor der Pilgermission St. Chrischona in Bettingen bei Basel. Müller arbeitete früher als Heilpädagoge; er steht nun dem Chrischonawerk vor, zu dem 190 evangelische Gemeinden in der Schweiz, Deutschland, Frankreich und Südafrika gehören. Im ersten Teil des Gesprächs www.livenet.ch/www/index.php/D/article/189/12377/ ging es um die Grundgesinnung des Dienens und die Auswirkungen im persönlichen Leben. Im folgenden zweiten Teil nimmt Markus Müller Stellung zu sozialen Herausforderungen.
Altersheim
Der Sozialstaat hat sich übernommen: Markus Müller

Livenet: Sie charakterisieren den dienenden Menschen von seiner Gesinnung her, die ihn anleitet, sich für andere gern herzugeben, sich frei einzusetzen. Im Gesundheitswesen, angesichts des Leidens und der Vergänglichkeit des Lebens, werden dienende Menschen besonders dringend benötigt…
Markus Müller: Die Probleme im Gesundheitswesen rufen nach neuen Perspektiven. Auch die Rentenfrage brennt unter den Nägeln. Wer davon mehr erfahren möchte, blicke nach Deutschland. Dort gibt es sehr viele Menschen, die höchste Ängste haben im Bereich der Arbeit, des Gesundheitswesens und der Altersvorsorge. Künftig kann nicht mehr mit den Beiträgen gerechnet werden, die Pensionierte heute bekommen. Das löst Ängste aus.

Wir brauchen Alternativmodelle. Nach meiner Einschätzung hat sich der Staat in den Zeiten des Wohlstands, in den letzten 20-30 Jahren, völlig übernommen. Ich kenne Städte, wo es allein für ältere Menschen über 50 Anlaufstellen gibt. Vermutlich wird dieses Angebot innert kurzer oder längerer Frist stark abgebaut oder – im schlechtesten Fall – ganz aufgelöst. Angesichts dieser Perspektive habe ich die grosse Hoffnung, dass die Christen nicht überrascht sein werden, sondern sich darauf vorbereiten. Sie sollten sich jetzt überlegen, wie sie mit solchen Situationen umgehen.

Ich habe neulich eine Versammlung gefragt: Was wäre, wenn in einem Jahr keine Rente mehr ausgerichtet würde? Werden unsere Gemeinden nur erschrecken und jammern? Oder werden sie sagen können: „Bei uns hat sich Dieses oder Jenes bewährt, und das muss jetzt einfach noch erweitert werden. Wir wissen, was sich bewähren könnte.“

Unsere Gesellschaft lebt von Zusammenschlüssen, die freiwillig eingegangen werden. Christen müssen auch auf dieser Ebene sehr viel mehr tun, wenn sie als Christen Zukunft haben wollen.

Wo sehen Sie besonders zukunftsträchtige Modelle von Christen an den Brennpunkten unserer Gesellschaft?
Es gibt natürlich vieles, was kaum wahrgenommen wird in der Öffentlichkeit. In Basel nimmt man etwa die Job-Factory wahr, im Aargau die Initiative ‚Wendepunkt’, innerhalb von Chrischona wird immer wieder das Centro Cristiano von Mendrisio erwähnt mit seinen Angeboten in der Kinderbetreuung. Aber es gibt sehr viel mehr Initiativen, etwa in der Altenarbeit. Ich weiss von Kreisen in Deutschland, wo sich ältere Menschen, rüstige Siebziger, zusammengetan und gesagt haben: Wir kümmern uns um die 80-100-Jährigen und sorgen dafür, dass ihnen wohlgetan wird, dass sie das Evangelium hören, aber auch Hilfe erleben im Alltag.

In Mendrisio, im Südzipfel der Schweiz, wird Frauen geholfen, die ihre Kinder tagsüber nicht betreuen können, weil sie arbeiten müssen. Die Christen suchen zu erkennen, was diese Frauen brauchen, und dienen ihnen kompetent, sorgfältig, auf Dauer. Warum macht dieses Modell nicht Furore in der christlichen Szene?
Dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Markus Zollinger und seine Leute haben deutlich eine Beauftragung von Gott, dies zu tun. Ich denke indes, dass wir dem Thema durchaus noch mehr Aufmerksamkeit widmen dürfen: Was möchte Gott von uns an unserem Ort – nicht nur zugunsten unserer kirchlichen Gemeinschaft, sondern zugunsten des Ortes, an dem wir leben?

Aus diesem Denken könnten gute Pflänzchen wachsen. Ich denke etwa an Hilfen für Männer und Frauen im Erziehen. Wie ist es für Männer im Spannungsfeld von Beruf, Familie und christlicher Gemeinde? Der Umgang mit Geld und Besitz scheint mir hochaktuell zu sein. Da tätig zu werden, setzt keine Riesen-Initiative voraus. Wenn beispielsweise eine Gemeinschaft eine Handvoll Leute hat, die fünf Prinzipien für den Umgang mit Geld kennen, dann ist es ein Riesen-Geschenk an den Ort, dieses Wissen weiterzugeben.

Ich weiss von einer Jugendgruppe, die davon profitierte. Den Jugendlichen wurde anschaulich gemacht, was sich im Umgang mit Geld bewährt. Dies hilft ihnen, nicht in die Schuldenspirale zu geraten. – Solche diakonische Projekte haben Zukunft. Mag sein, dass man gar nicht viel über sie redet. Sie haben indes grosse Bedeutung da, wo wir leben.

Könnten Sie im Chrischona-Werk mehr tun, um diakonische Arbeit zum Thema zu machen und dazu zu motivieren?
Bei der Aussage, dass man mehr tun könnte, will ich nie vergessen, was alles bereits getan wird: Wie viele ältere Menschen werden gepflegt, wie viele Kinder werden von Grosseltern umsorgt, wenn die Eltern beide berufstätig sind. Hier wird enorm viel getan.

Logischerweise kann man immer mehr tun. Es braucht dazu ein Feuer von Gott – und ich glaube auch, dass es einzelne berufene Menschen gibt, Männer und Frauen, die einen Auftrag haben, den sie noch entdecken dürfen. Das Befreiendste ist immer, wenn ich mich Menschen anschliessen kann, die eine Leidenschaft für ihre Sache haben. Ich möchte an meiner Stelle dazu beitragen, dass es viele dieser leidenschaftlichen Menschen gibt – und freue mich auf das, was Gott durch sie vollbringt.

Was sagen Sie zur Meinung, dass in frommen Kreisen gut biblisch gepredigt, aber nicht genug getan wird, um Bedürftigen zu helfen?
Ich bin sehr vorsichtig in Pauschalurteilen. Erst gilt es zu sehen, was alles schon getan wird in den Bereichen, die ich erwähnt habe. Wenn ein Vater seinem Sohn erklärt, wie er mit dem Geld umgeht, welchen Leitlinien er folgt, welche Dinge er vermeidet, dann halte ich das für etwas ganz Wichtiges, von der Bibel Genährtes. Ich möchte ermutigen, dies sehr bewusst zu leben.

Zweitens: Wir sind gefährdet, den Blick in das gesellschaftliche Umfeld immer wieder zu verlieren. Das hängt aber auch mit den Belastungen imBeruf zusammen. Ich kann nicht mehr wahrnehmen, was gesellschaftlich notwendig wäre, wenn ich beruflich extrem angespannt bin und meine familiäre Situation anspruchsvoll ist. Heisst es dann auch noch in der Gemeinde: Du tust zuwenig!, ist das meistens kontraproduktiv. – So sehr ich mir anderseits Männer und Frauen wünsche, die wirklich den Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse haben und Wegweisendes einbringen können wie Philipp Jakob Spener zu seiner Zeit.

Wie sieht es in der Leitung des Chrischona-Werks aus, der Sie als Direktor vorstehen? Können sie den Blick auf diese Herausforderungen richten?
Wir hatten in den letzten Jahren heikle, schwierige Probleme. Einige bleiben uns erhalten. Die entscheidende Herausforderung – ich meine, da hat Gott zu uns gesprochen – besteht darin, ob wir Menschen sind, die wirklich sorgfältig mit dem Anvertrauten umgehen. Es geht um sorgfältige Haushalterschaft, nicht nur finanziell, sondern auch mit den persönlichen Gaben, mit der Zeit, den Menschen, die wir haben.

Gott fragt uns: Seid ihr sorgfältig und seid ihr treu? Die Frage war auch: Habt ihr eine Ahnung davon, was Demut ist? Könnt ihr dienen? Seid ihr frei vom Gedanken, immer besser zu sein als die Andern, grösser, schneller, erfolgreicher zu sein – die klassischen Leistungskriterien. Ich empfinde eine grosse Entspannung auf Chrischona. Wir können sagen: Mit dem, was Gott uns anvertraut hat, möchten wir treue Haushalter sein.

Darin gibt’s natürlich viele, viele Fragen, die zu bewältigen sind. Aber es ist etwas Schönes, in einem Werk mit soviel guten Segensspuren unterwegs zu sein. Wir merken: Gott bestätigt den Weg der Sorgfalt, der Demut, des Vertrauens, der Versöhnung – auch wenn Manches nicht gelingt. Wir sind miteinander auf dem Weg.

Chrischona-Webseite:
www.chrischona.ch

Datum: 02.02.2004
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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