Sozialwerke Pfarrer Sieber

«Unser Einsatz ist inspiriert vom Vorbild von Jesus Christus»

Ende Januar hat Martin Fischer die Gesamtleitung der Sozialwerke Pfarrer Sieber in Zürich an Pfr. Christoph Zingg übergeben. Im Livenet-Interview äussert er sich zur Krise von 2005, zur Armut in Zürich und den besonderen Stärken der Stiftung.
Martin Fischer hat die Gesamtleitung der Sozialwerke Pfarrer Sieber abgegeben. (Foto: Sozialwerke Pfarrer Sieber)
Sozialwerke Pfarrer Sieber: Arbeit und ein Dach über dem Kopf. (Foto: zVg.)
Professionelle Hilfe in Beratungsgesprächen. (Foto: zVg.)

Livenet: Die Sympathie für die Arbeit der Sieber-Werke war immer da. Wie haben Sie seit der Krise 2005 das Vertrauen wiederhergestellt?
 
Martin Fischer: Neues Vertrauen aufzubauen war die grösste Herausforderung für mich. Dafür galt es nach aussen direkte Gespräche mit städtischen und kantonalen Stellen zu etablieren. Monatliche Berichte eines unabhängigen Berichterstatters informierten sie über die Tätigkeiten und den Geschäftsgang. Auch nach innen war wieder Vertrauen zu gewinnen, nachdem AHV-Beiträge über Monate nicht mehr entrichtet und Löhne verspätet ausbezahlt worden waren. Die Mitarbeitenden mussten Lohnkürzungen akzeptieren. Mit der sogenannten Millionenspende – verwaltet vom Kirchenrat des Kantons Zürich – konnte die Liquidität wieder hergestellt werden. Nach innen war absolute Transparenz erforderlich. Ich installierte eine Geschäftsleitung, bestehend aus allen Betriebsleitenden. Den «einsam agierenden Chef» durfte es nicht mehr geben.
 
Nachdem die SWS knapp am Konkurs vorbeigeschrammt waren, erwartete die Öffentlichkeit griffige Massnahmen. Die konsequente Konzentration auf Kernaufgaben half uns. Wir verzichteten auf einen hauseigenen Juristen und eine vollangestellte Psychologin.
 
Vertrauensbildend war zudem die Erweiterung des Stiftungsrates mit kompetenten Persönlichkeiten verschiedener Fachbereiche. Dass wir dem Werk ein Patronatskomitee mit Persönlichkeiten aus Kirche und Politik zur Seite stellen konnten, signalisierte auch den Medien, dass die Sozialwerke Pfarrer Sieber wieder Vertrauen geniessen. Wir hatten unser eigenes Haus in Ordnung gebracht.

Gibt es heute mehr oder weniger Armut in Zürich als vor fünf Jahren?
Wir meinen, dass die Armut sich in den letzten Jahren noch verschärft hat. Allerdings fehlen offizielle Statistiken. Eine Annäherung bieten die Zahlen zu staatlichen Unterstützungsleistungen 2009: Sogenannte Zusatzleistungen wurden an rund 27'500 Personen ergänzend zur AHV und an rund 20'000 Personen ergänzend zur IV erteilt. Die Sozialhilfe unterstützte 43'700 Personen. Also erhielten 91'200 Menschen im Kanton Zürich staatliche Gelder, um das Existenzminimum zu erreichen. Laut Statistik ist also fast jede 15. Person von Armut betroffen.

Aus Studien ist jedoch bekannt, dass viel mehr Menschen am oder unter dem Existenzminimum leben. Fachleute gehen davon aus, dass nur ein Drittel aller Anspruchsberechtigten auch tatsächlich Sozialhilfe beantragt. Die Zahl der Armen im Kanton Zürich ist demnach wesentlich höher einzuschätzen.

Was macht Ihnen Sorge?
Sorge bereitet mir bei diesen Zahlen die Entsolidarisierung breiter Kreise. So etwa hatte die Wirtschaft bei der letzten IV-Revision versprochen, solidarisch bei der Integration behinderter und kranker Menschen mitzutun. Von den damals gemachten Versprechen sind wir weit entfernt. Glücklicherweise gibt es im Gegensatz dazu beispielhafte Unternehmer. Mit massiven Beiträgen und Spenden für Hilfsorganisationen signalisieren sie, dass sie die Menschen auf der Schattenseite in ihr Denken und Handeln integrieren wollen.

Ist es auf der Gasse kälter geworden?
Seit der Auflösung der offenen Drogenszene gibt es eine aggressive und mafiös organisierte versteckte Dealerszene. Die abhängig gewordenen Drogenkranken kommen auf Grund der Repression kaum mehr zur Ruhe. Unsere Leute der SWS auf der Gasse berichten von unglaublich traurigen Schicksalen und der für die Süchtigen immer bedrohlicher werdenden Situation. Da ist zum einen die Ohnmacht der Polizei gegenüber der organisierten Drogenkriminalität, zum andern die wachsende Gewaltbereitschaft rivalisierender Gruppen, zwischen welche unsere Hilfesuchenden nicht selten geraten.

Wie empfinden Sie die Kluft zwischen dem Zürich der Reichen und dem Zürich der Bedürftigen und Obdachlosen?
Die Kluft schmerzt. Wir haben es in Zürich geschafft, die Welt der Bedürftigen und Obdachlosen an die zuständigen Sozialbehörden und an die privaten Hilfsorganisationen zu delegieren. Gewiss finanzieren die Reichen der Stadt mit ihren Steuern ein effizientes soziales Auffangnetz. Leidende Menschen in unserer Stadt haben Hilfsangebote wie sonst kaum irgendwo auf der Welt. Mich schmerzt jedoch die Liebe-lose Kluft zwischen denen, welche ihr Leben auf eigenen Füssen und gut finanziert gestalten können, und denen, die schicksalhaft auf der Schattenseite leben und sich selber nicht mehr zu helfen vermögen.

Wie hat sich der Umgang der Gesellschaft mit Süchtigen verändert?

Grundsätzlich überhaupt nicht. Aus den Augen aus dem Sinn möchten Mann und Frau nach wie vor diejenigen verbannen, welche die eigene geordnete Welt stören. Verändert hat sich die Einstellung zum Thema und zum Faktum der Sucht. Legale Drogen, wie Alkohol und Tabletten, wurden in breiten Bevölkerungskreisen schon immer hingenommen. In der Zwischenzeit wird auch illegaler Drogenkonsum breiter akzeptiert – aus meiner Sicht eine problematische Entwicklung. Dass zumindest auf politischer Ebene ein Konsens besteht, krankhaften Konsum anzugehen und mit entsprechenden Massnahmen und Therapiekonzepten zu verhindern, stimmt mich hoffnungsvoll.
 
Sie helfen – und sind auch Anwalt. Wie treten Sie in Gesellschaft und Politik für die Armen ein?

Es ist nicht unsere Aufgabe, regelmässige Hilfeleistungen an Bedürftige und Armutsbetroffene auszuzahlen. Der Staat hat verfassungsmässig den Auftrag, jedem Menschen in unserem Land ein Leben erhaltendes Minimum zu gewährleisten. Der Solidaritätsgedanke ist also gesetzlich verankert. Daran müssen wir politisch Verantwortliche in unseren Gesprächen immer wieder erinnern.

Als Sozialwerke Pfarrer Sieber springen wir ein, wo Lücken bestehen. Wir überbrücken dort, wo die Fürsorge nicht oder noch nicht organisiert ist, und bewahren damit manchen Mitmenschen vor dem endgültigen Absturz. Wir verstehen uns als Lückenschliesser und nicht als Lückenfüller.

Was unterscheidet die Arbeit der SWS von staatlicher Sozialhilfe?
Die ehemalige Sozialvorsteherin der Stadt Zürich, Monika Stocker, hat einmal formuliert: «Der Staat kann nicht lieben.» Im Gespräch erläuterte sie mir dies dahingehend, dass der Staat von seinem Auftrag her zwar alles einzusetzen hat, damit Not gelindert und Hilfe nachhaltig erbracht wird. Was staatlich organisierte Hilfe jedoch nicht leisten könne, sei die persönliche Zuwendung, das seelsorgerliche Gespräch, Glauben und Hoffnung für leidende Menschen.

Für die Pioniere der Diakonie hiess das Leitmotiv: «Rettende Liebe». So verstehe ich den Dienst der SWS. Er definiert sich vom Auftrag von Jesus Christus her, leiblicher und geistlicher Not mit direkter Hilfe und dem rettenden Zuspruch aus dem Evangelium zu begegnen.

Sind sie für direkte Hilfe besser positioniert?

Nicht was den Mittelumfang betrifft, aber in der Organisationsform. In einer privatrechtlich organisierten Stiftung sind die Entscheidungswege für spontane und schnelle neue Hilfsangebote kurz und effizient. Unbürokratisch können wir eben einspringen und Lücken schliessen, wo andere noch nicht hingekommen sind – oder gar nicht mehr hin wollen, weil sie keine Kostengutsprache erhalten. Ernst Sieber hat es einmal so formuliert: «Andere fragen: Wo ist die Kostengutsprache? – dann helfen wir. Wir aber fragen: Wo ist mein Mitmensch? – und so helfen wir!»

Wie sind Sie damit umgegangen, dass manche Bedürftige an sich nicht arbeiten mögen oder dies nur in engen Grenzen können?
Es gibt Überlebenskünstler, welche nur bedingt Hilfe wollen und in ihrem Umfeld und ihrem Lebensentwurf verharren. Aber zu Hunderten, ja zu Tausenden gibt es Menschen, die es einfach nicht mehr alleine schaffen. Kaputt gemacht von ihrer Sucht, eingezwängt in einer psychischen Krankheit, medizinisch akut krank auf lange Zeit, als multimorbider Suchtpatient im terminalen Stadium, in welchem nur noch palliative medizinische Hilfe und der seelsorgerliche Zuspruch gegeben werden können... ja, da bleiben wir. Bleiben mit ihnen und bei ihnen als Mitmenschen.

Ehrlich, ich habe da oft mit gelitten. In den SWS habe ich wie nie zuvor in meinem Leben beten gelernt für Menschen auf der Schattenseite. Ich habe geübt, was es heisst, für andere Menschen zu glauben und ihnen – etwa in Gottesdiensten oder im persönlichen Gespräch – Jesusgeschichten in ihre Lebenssituation hinein zu übersetzen.

Was treibt Pfr. Ernst Sieber, bald 84-jährig, noch unter dem Dach der SWS?
Ernst Sieber ist als Stiftungsgründer das Ehrenpräsidium der SWS zugesprochen. Als solcher war er für mich als Gesamtleiter und auch für den Stiftungsrat ein regelmässiger Gesprächspartner. Obwohl er im sogenannten Tagesgeschäft keine Verantwortung mehr trägt, war es für mich wichtig, ihn in unserer Arbeit als Impulsgeber zu hören und auch zu verstehen.

Ernst Sieber ist nach wie vor Verantwortlicher seines Pfuusbusvereins, welcher im Winter im Albisgüetli die Notunterkunft im Pfuusbus betreibt und nachts auch Kältepatrouillen durch die Stadt Zürich organisiert. Die über 160 Mitarbeitenden in den SWS zu führen, ist jedoch Sache des Gesamtleiters und der Geschäftsleitung.

Pfarrer Sieber hat die Christusnachfolge in die Mitte gestellt. Wie kommt diese Nachfolge in der Arbeit der SWS und ihrer Unternehmenskultur zum Ausdruck?
Darin sah ich eine meiner Hauptaufgaben: Eine Vertrauenskultur aufzubauen, welche den Mitarbeitenden Verantwortung und Liebe für die Arbeit zugesteht und sie einlädt, diesen Dienst bewusst im Sinn und Geist des Evangeliums von Jesus Christus zu verstehen und zu tun. Ich habe für die SWS ein Leitbild schaffen können, das an zentraler Stelle festhält: «Unser Einsatz ist inspiriert vom Vorbild von Jesus Christus. Seine Liebe und seine Hoffnung weisen uns zu den Leidenden.» Und an anderer Stelle: «Wir wollen Gottes Menschenliebe, Barmherzigkeit und Vertrauen erfahrbar und sichtbar werden lassen.»
 
Für mich war klar, dass neue Mitarbeitende sich mit dieser Grundlage identifizieren können müssen. Heute haben wir die Mehrzahl der Kaderstellen wieder mit fachkompetenten engagierten Christinnen und Christen besetzt.

Homepage der Sozialwerke Pfarrer Sieber



Datum: 07.02.2011

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