Wenn Menschen durchs Netz fallen

„Gott stieg herab, um uns zu helfen“

Die Sozialwerke Pfarrer Sieber SWS haben dieses Jahr unter Sparzwang zehn Stellen abgebaut. Martin Fischer, seit Oktober SWS-Geschäftsführer, wünscht mehr kirchliches Engagement für die Menschen am Rand der Gesellschaft.
Die Sieber-Werke entwachsen der Hand ihres charismatischen Gründers, des Obdachlosen-Pfarrers Ernst Sieber.
Martin Fischer
Viele Menschen haben in den SWS-Stätten Hilfe erfahren.

Livenet: Befassen sich die Christen in Zürich genug mit den Abgestürzten und Randständigen?
Martin Fischer: Daran zweifle ich. In den christlichen Gemeinden hat der sozial-diakonische Auftrag einen kleinen Stellenwert. Das Engagement für die Ärmsten der Armen um uns herum ist kaum im Blickfeld der Christen.

Menschen, die durch alle Netze gefallen sind, werden vielfach auch von Kirchgemeinden aufgegeben. Nicht selten fragen diese Menschen: „Was bringt das überhaupt? Hat es einen Wert, sich in Menschen zu investieren, die höchstwahrscheinlich jede Therapie wieder abbrechen? Die es, auch wenn sie genug Glauben hätten, ohnehin nicht packen werden?“

Dabei wird übersehen, dass die Betroffenen oft den Mut haben, im Vertrauen auf Gott etwas Neues anzufangen, nachdem in ihrem Leben viel kaputt gegangen ist. Oft wollen sie neu anfangen, trotz grossen Schwierigkeiten und mangelnder eigener Kraft. Gerade zu solchen Randständigen müssen wir Christen hingehen. Auch sie sind Menschen, Ebenbilder Gottes.

Sie haben Stellen abbauen müssen. Schweben Ihnen neue Projekte vor?
Im nächsten Jahr müssen wir neue Mitarbeiter einstellen – besonders für die ganzheitliche Beratung. Uns schwebt ein Care-Team vor, welches Ausstiegswillige betreut. Bis jetzt gingen die Ausstiegswilligen mehr oder weniger selbständig von einer Institution zur andern. Das soll sich ändern: Mitarbeiter des Care-Teams gehen den ganzen Weg der Integration mit.

Wie sieht dieser Weg aus?
Beispielsweise kommen Menschen im Pfuusbus oder durch die Aktion Kälte zu den SWS und fassen den Mut, einen Schritt zu tun. Sie wollen nicht nur knapp überleben, sondern zu einer neuen Lebensqualität gelangen. Sie kommen ins Ur-Dörfli oder ins Sune-Dörfli, wo sie eine Therapie machen, oder in den Sune-Egge, wo sie medizinisch betreut werden. Schlussendlich kommen sie in den Bereich des begleiteten Wohnens. Dort übernehmen sie eine regelmässige Arbeit.

Selbstverständlich nehmen die SWS-Mitarbeiter auch seelsorgerliche Aufgaben war – und zwar ganzheitlich. Sie helfen bei materiellen und geistlichen Problemen. Und sie versuchen, Betroffene für nächste Schritte zu motivieren. In diesem Care-Team wünsche ich mir engagierte Christen.

Gibt es genug qualifizierte Christen für diese Dienste?
Wir brauchen Fachpersonen, ganz klar. Leider sind wenige Fachleute engagierte Christen. Wieso eigentlich? Menschen sollen doch entdecken: Da ist einer, der ganz nahe bei mir ist. Gott stieg zutiefst herab, um uns zu helfen. In der Geschichte des barmherzigen Samariters geht es primär um praktische Hilfe. Aber es braucht mehr: Wie das Neue Testament zeigt, nimmt Jesus diese Menschen mit auf einen Weg. Er will sie für etwas Neues gewinnen. Er nimmt sie in seine Nachfolge. Das möchte ich auch in unseren Kontakten erreichen.

Welche Ziele haben Sie für das Team der Mitarbeitenden?
Wir brauchen eine neue Kultur. eine Kultur des Vertrauens. In den letzten Jahren hat sich eine Kultur eingeprägt, hinter der viel Misstrauen stand – bedingt durch ein grosses Engagement und viele Blitzaktionen.

Jetzt ist aber die Zeit reif, dieses Misstrauen aus dem Weg räumen.Unsere Mitarbeiter sollen Vertrauen gegenüber den Verantwortlichen, gegenüber dem Stiftungsrat und gegenüber der ganzen Institution fassen. Auch Vertrauen gegenüber anderen Mitarbeitenden. Schlussendlich Vertrauen auf unseren grossen Gott, der uns durch alles hindurchträgt.

ie wird sich die Arbeit der SWS in Zukunft entwickeln?
Die Drogenszene der Schweiz verändert sich massiv. Im Sune-Dörfli (Rehabilitationszentrum für Suchtkranke) kämpfen wir massiv mit der Belegung. Wir haben heute nicht mehr die verelendeten Platzspitz-Drögeler, die man irgendwo abstellen muss. Heute nehmen viele erwerbsfähige Menschen Designer-Drogen. Sie sind abhängig, aber noch in die Gesellschaft integriert.

Doch längerfristig wird ihr Drogenkonsum Auswirkungen haben. In einigen Jahren werden wir diese heute noch erfolgreichen Menschen betreuen müssen, weil sie psychisch nicht mehr klar kommen. Viele werden durchknallen. Einige erleben das heute schon: Es wird von ihnen gefordert, gefordert und nochmals gefordert. Irgendwann können sie nicht mehr und fallen plötzlich aus dem Netz der Gesellschaft heraus. Solche Schicksale werden wir in Zukunft oft erleben und vermehrt diese Menschen betreuen müssen.

Datum: 17.12.2005
Quelle: New York Times

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