Zürcher Stadtmission

„…dann ist jede Begegnung eine Bereicherung“

„Jeder Mensch, der zu mir kommt, hat meinen Respekt, ob er nun stinkt oder zittert. Ich versuche, dem Hoffnungslosen ein Stück Hoffnung auf den Weg zu geben.“ Anita Zimmerling Enkelmann ist Diakonin bei der Zürcher Stadtmission.
Im Café Yucca wird währschaft gekocht.
„Den Hoffnungslosen ein Stück Hoffnung geben“: Anita Zimmerling Enkelmann
Die Stadtmission berät AusländerInnen, die im Gastgewerbe arbeiten.
„Den Mitmenschen von Herzen als Geschöpf Gottes sehen“: Pfr. Christoph Zingg leitet die Zürcher Stadtmission seit 2002.
Drei Frauen der Stadtmission suchen Sexworkerinnen auf.
Beiz mit Kapelle und Töggelikasten: Im Café Yucca können Gäste, die im Spiel des Lebens zu kurz kamen, den Ball spielen.
Die Stadtmission ist für Menschen da, denen das Leben mehr Dunkles als Helles beschert.
Blick übers Niederdorf: Christoph Zingg, Anita Zimmerling und Sekretärin Brigitta Feller auf dem Dach des Hauses an der Häringstrasse.
Manchmal ist rasche Hilfe gefordert, oft längerfristige Begleitung gefragt.

Weil der Staat sparen muss, fallen Menschen eher durch die Maschen des sozialen Netzes, sagt Zimmerling. In der Regionalen Arbeitsvermittlung rechne man eine Viertelstunde pro Fall, ergänzt Pfr. Christoph Zingg, der Leiter der Stadtmission: „In dieser Viertelstunde muss der Mensch auch über den ganzen Papierkrieg instruiert werden. Für existentielle Fragen ist da kaum Zeit. Und was wenn jemand kommt mit einer Krankheit, die man nicht gleich sieht, oder einem Schulsack, der kleiner ist als der normale?“

Das älteste diakonische Werk

Die Zürcher Stadtmission ist das älteste diakonische Werk, das in der Stadt Zürich arbeitet. Sie wurde in den kapitalistischen Gründerzeiten Mitte des 19. Jahrhunderts im Zuge der „inneren Mission“, einer vom deutschen Pfarrer Johann Hinrich Wichern ausgehenden Erweckungsbewegung, von engagierten Christen der reformierten Landeskirche begründet.

Als Zweigwerk der Evangelischen Gesellschaft des Kantons Zürich wirkt sie heute in der Banken- und Dienstleistungsstadt, die eine Rekorddichte von Seelenklempnern aufweist. Mit Geldern der Trägerschaft und von Kirchgemeinden, von Stadt und Kanton und privaten Gönnern und in enger Zusammenarbeit mit dem Verband der reformierten Kirchgemeinden der Stadt ist sie für Randständige, Arbeitnehmer im Gastgewerbe und Prostituierte da.

Café mit Gesprächsangebot, Jöggelikasten – und Kapelle

1967 wurde eine Arbeit unter Halbstarken und Rockern lanciert. Das Café, in dem sie einkehrten, wurde 1978 vom Limmatquai an den Sitz der Stadtmission (Häringstrasse 20 im Niederdorf, nahe der Predigerkirche) verlegt. Seit 1994 heisst das Lokal Café Yucca.

Die Gäste können sich ausruhen, Kontakte knüpfen oder spielen; ein Jöggelikasten steht bereit, und als einziges Restaurant der Stadt Zürich verfügt das YUCCA über eine eigene Kapelle. Sie steht Ruhesuchenden und Betenden ebenso offen wie Menschen, die Seelsorge wünschen oder Gottesdienst feiern möchten. Der „Gottesdienst mit Biss“ findet in der Regel am zweiten Sonntag des Monats um 17 Uhr statt und führt in ein gemeinsames Abendessen im Lokal.

Alles was Probleme macht…

Da die Stadtmission den randständigen Besuchern wirksamer helfen wollte, hat sie eine Sozialberatung eingerichtet. Da geht es um Arbeitslosigkeit, fehlendes Obdach, Suchtprobleme und religiöse Fragen. Anita Zimmerling Enkelmann, die berufsbegleitend praktische Theologie am IGW studiert: „Ich kann meinen Gesprächspartner weiterweisen an andere soziale Institutionen oder Amtsstellen. Als Christin kann ich ein Stück Glauben weitergeben, ihn aufmerksam machen auf das, was auch noch sinnvoll sein könnte im Leben.“

Drei- bis viermal pro Woche ist mit Diakonin Ricarda Rietberger eine versierte Gassenarbeiterin unterwegs. Sie sucht Menschen mit Lebensmittelpunkt Strasse auf, bietet ihnen Gespräche, Vermittlungen, Netzwerkarbeit und Sachhilfe an und setzt damit um, was laut Christoph Zingg die Stadtmissions-Arbeit generell prägt: „Hingehen, wo die Menschen sind. Mission heisst, nach Menschen fragen, Menschen suchen.“

Für bedrängte Prostituierte da

Der zweite Arbeitszweig der Stadtmission ist „Isla Victoria“. Isla Victoria ist aus der „Mitternachtsmission“ gewachsen und bietet Sexworkerinnen im Kreis 4 einen Treffpunkt, wo sie sich aufwärmen und verpflegen können. Sie finden in einer Beratungsstelle Hilfe.

Auch hier ist die niederschwellig-aufsuchende Arbeit zentral: Drei Mitarbeiterinnen, die insgesamt zehn Sprachen sprechen, suchen Sexworkerinnen regelmässig an ihren Stand- und Arbeitsorten auf und unterstützen sie im Bestreben, sich gegen Aids und andere sexuell übertragbare Krankheiten zu schützen. Sie geben Informationen weiter über andereAngebote für Frauen in der Stadt oder hören einfach zu.

Menschen im Gastgewerbe vor Ausbeutung schützen

Drittens betreibt die Stadtmission eine Fach- und Beratungsstelle für Gastronomie und Hotellerie. Diese steht in der Tradition der Gastgewerbeseelsorge. Sie hilft Menschen aus allen Teilen, Kulturen und Religionen der Welt namentlich in Fragen der Existenzsicherung, insbesondere in arbeits-, aufenthalts- und versicherungsrechtlichen Fragen. Viele Arbeitnehmer werden ausgenutzt, die personelle Situation in der Branche gerade für schlecht qualifizierte Arbeitskräfte prekär.

Seit der Abschaffung des Wirtepatents können Leute ohne personalrechtliche und betriebswirtschaftliche Kenntnisse ein Lokal eröffnen. Christoph Zingg: „An einem schönen Tag ist die Beiz dann zu, und Sozialleistungen etc. wurden nicht bezahlt.“ Die Zürcher Stadtmission hat auch ein theologisches Interesse am Gastgewerbe, da Gastfreundschaft im umfassenden Sinn biblisch begründet ist. Die „bezahlte“ Gastfreundschaft soll nicht nur den Bewirteten zugute kommen, sondern auch für ihre Mitarbeitenden attraktiv und sinnstiftend sein.

„Jeder für sich selbst verantwortlich“

Der Leiter der Stadtmission nimmt im multikulturellen Zürich eine schleichende Entsolidarisierung wahr. Menschen wissen nicht mehr, wem sie glauben sollen. „Es ist alles irgendwie richtig und doch nicht wirklich richtig. Und es geht ja so – Hauptsache, man lebt. Anderseits ist jeder und jede für sich selbst verantwortlich und sollte diese Verantwortung gefälligst selbst wahrnehmen – ob er/sie dazu in der Lage ist oder nicht.“ Nach Zimmerling erwartet die Gesellschaft, „dass man funktioniert. Wer ein bisschen neben den Geleisen steht und dies nicht verbergen kann, für den wird es sehr schwierig.“

Die Stadt zahlt für Leistungen

Die Stadt versucht zu sparen, als wäre ein sozialer Franken dann ein guter Franken, wenn er eingespart wird (wie die grüne Sozialvorsteherin Monika Stocker einmal an die Adresse der politischen Rechten sagte). „Wir werden heute mehr als früher hinterfragt“, sagt Zingg. Die Stadtmission hat zwei Leistungsaufträge.

Zum Café Yucca steuert die Stadt 50'000 Franken bei, zur Isla Victoria 122'000 Franken, verbunden mit dem Auftrag, unter Prostituierten aufsuchende Aids-Prävention zu leisten. Zingg: „Dass wir nicht mit der Giesskanne unterstützt werden, kommt uns entgegen. Die Stadt prüft genauer, was sie will, verlangt eine bestimmte Leistung, wir rechnen sauber und machen den Preis, und am Schluss ist’s wie bei einem normalen Einkauf: Beide Seiten können überprüfen, ob sie erhalten haben, was sie zu erhalten wünschen. Das ist nicht zuletzt für den Steuerzahlenden attraktiver.“

Männerproblem Einsamkeit

Einsamkeit ist ein grosses Problem – die Mehrzahl der Haushalte in der Limmatstadt wird bloss von einer Person bewohnt. Zingg erwähnt die Kunden der Dargebotenen Hand, die am Wochenende stundenlang am Telefon hangen. „Sie aus der Einsamkeit herauszuholen in die Gemeinschaft, ist schwer. Viele Schweizerinnen und Schweizer leben für sich selbst, allein. Am Sonntag gehen sie in den Wald. Aber einem Baum können sie nicht die Hand schütteln.“

Im Café Yucca sind zwei Drittel Männer. Gemäss Zingg sind Frauen im Umgang mit schwierigen Situationen „kreativer und pragmatischer. Wir Männer werden mehr gemessen daran, dass wir funktionieren. Wir gehen in die Schule, in die Lehre, arbeiten, werden pensioniert, haben Grosskinder. Wo dieses Normale wegfällt, sind wir hilfloser und werden weniger gesellschaftlich gestützt als Frauen, die seit Jahrhunderten eine Menge verschiedener höchst anspruchsvoller Jobs auf die Reihe kriegen, aber jetzt noch kritisiert werden, wenn sie sich „Familienmanager“ nennen. Eine Nachbarin gab dies als Beruf an, sehr zum Missfallen der Amtsstelle.“

„Radikal diakonisch“…

Was verstehen die Stadtmissionare unter „radikal diakonischer Arbeitsweise“? Christoph Zingg: „Zuwendung zum Nächsten, ohne eine Gegenleistung zu suchen. Ich erwarte von meinem Gegenüber keine Zahlung, keine Anerkennung, kein Bekenntnis – mein Interesse gilt ihm. Alle Menschen, ungeachtet ihrer Herkunft, Religion, Ethnie, Konfession oder Lebensbezüge sind Geschöpfe Gottes und als solche grundsätzlich geliebt und bejaht. Darin liegt auch ihre Würde. Wo diese Würde verletzt wird, wissen wir uns in besonderer Weise verpflichtet.“ Davon könnte und sollte in der Landeskirche mehr zu spüren sein. Anita Zimmerling Enkelmann wünscht wie viele diakonisch Tätige eine grundsätzliche Gleichstellung ihrer Arbeit mit dem Pfarramt.

…in einem pfarrerzentrierten Umfeld

Der Pfarrer, der die Stadtmission seit Anfang 2002 leitet, stösst ins selbe Horn: „Die reformierte Kirche ist generell sehr pfarrerbezogen. Gleichzeitig ist eine ihrer grossen Stärken die Bereitschaft zur Differenzierung. Die Perspektive könnte sich also durchaus ändern. Ich wünsche mir eine generelle Diakonisierung der Gemeinden – ein geschwisterliches Zusammenleben von allen: dass sie für Mitmenschen offen sind, sie wahrnehmen, auf sie zugehen, nach ihnen fragen.“

All dies sollte nicht nur von einigen Fachleuten besorgt werden, meint Zingg, „das können alle Christinnen und Christen je mit ihren ureigenen Gaben. Dazu sollten sie von kirchlicher Seite vermehrt ermutigt werden. Die Profis – Theologen, Diakoninnen, Musiker, Katechetinnen – hätten immer noch genug zu tun mit allem, was wirklich fachspezifische Fähigkeiten voraussetzt.“

Den Andern als Geschöpf Gottes sehen

Zingg weist darauf hin, dass auch bibelorientierte Kreise – er hat z.B. eine freikirchliche Jungschar vor Augen – oft dazu neigen, vor allem an sich zu denken. „Für Andere, die nicht der Gemeinschaft angehören, hat man wenig übrig, man betet nicht für sie oder sieht sie vor allem als Objekte für Mission. Doch für den Apostel Paulus machen viele Glieder die Gemeinde aus.“

Glauben, Denken und Helfen gehören zusammen; das Füreinander, das die Theologie in den Blick nimmt, muss in der diakonischen Gemeinschaft wirklich werden. Zingg fragt: „Kann ich als Christ den Mitmenschen wahrnehmen, ohne dass ich weiss, was er oder sie glaubt? Kann ich ihn wirklich und von Herzen als Geschöpf Gottes sehen? Wenn ich das hinkriege, dann ist jede Begegnung eine Bereicherung und ein Geschenk Gottes.“

Homepage der Zürcher Stadtmission:
www.gastro-beratungen.ch/index.htm

Die Stadtmission sucht dringend Schlafplätze für Obdachlose:
www.gastro-beratungen.ch/stadtmission/stamiwinterschlaf.htm

Datum: 07.01.2006
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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