Gravierendes Drogenproblem in Ost-Jerusalem

Ost-Jerusalem

In Ost-Jerusalem nimmt der Drogenmissbrauch zu, und Drogendealer agieren weitgehend ungehindert, teils unter den Augen der israelischen Polizisten. Die Palästinenser in dem umstrittenen Teil der Stadt trauen der israelischen Polizei ein wirksames Vorgehen oft nicht zu. Die Dealer stehen in der Umgebung des Damaskustors, in der Nähe der Polizeihauptwache und in auch jenen Gassen, die die Schüler täglich passieren.

Am ältesten ist das Drogenproblem im christlichen Quartier der Jerusalemer Altstadt. Schon in den 70-er Jahren riss die Drogensucht viele christliche Araber-Familien in einen Strudel, und manche Familien emigrierten ins Ausland, um der Geissel zu entkommen. Beobachter verweisen auf die grössere Aufgeschlossenheit der christlichen Araber für westliche Einflüsse (Alkohol ist ihnen nicht verboten) und darauf, dass sie zwischen den Fronten des Konflikts leben und wenig berufliche Perspektiven haben. Die Familien können ihren Sprösslingen eine Hochschul-Ausbildung bezahlen, aber der israelische Arbeitsmarkt bleibt den Palästinensern, seien sie Ärzte, Anwälte oder Volkswirte, verschlossen, auch wenn sie Einwohner von Jerusalem sind.

Billiger Stoff

Einwohner von Ost-Jerusalem sagten der Zeitung Haaretz, dass in der Weihnachtszeit vor allem LSD leicht erhältlich war. Ein Gramm Heroin habe sich von 200 Dollar vor einigen Monaten auf 70-80 Dollar verbilligt. Jugendliche aus allen Teilen der Gesellschaft, aus religiösen und säkularen, reichen und armen, hierher geflüchteten und alteingesessenen Jerusalemer Familien konsumieren Drogen. Ein Sozialarbeiter kennt junge Palästinenserinnen, die Ecstasy und Marihuana nehmen. Der Drogenkonsum liegt in Jerusalem viel höher als in der Westbank und im Gazastreifen, auch höher als bei jüdischen Israelis. Die Süchtigen werden zunehmend jünger. Unter Drogeneinfluss kommt es zu mehr häuslicher Gewalt. In religiösen Muslim-Familien werden generell weniger Drogen genommen.

‚Riesiger Slum‘

Laut Statistiken leben zwei von drei Palästinensern in Jerusalem unter der Armutsgrenze. Die Drogensucht ist nach dem Zeitungsbericht ein weiteres Anzeichen dafür, dass „in der israelischen Hauptstadt ein riesiger palästinensischer Slum im Entstehen begriffen ist“. Die Vernachlässigung der Infrastruktur und der baulichen Entwicklung sowie Strassenbanden, die ihr Gebiet praktisch ungehindert beherrschten, verschärften das Problem. Dazu kommt die Entfremdung – politisch wie religiös – zwischen den jüdischen Behörden und den arabischen Einwohnern. Bei der Drogensucht zeigt sich der abnehmende Zusammenhalt der Familien und die Schwächung alter sozialer Bindungen und Werte.

Eine Studie ergab 1999, dass 10‘500 Jerusalemer Araber (5 Prozent der Bevölkerung) Drogen nahmen, verglichen mit 14‘434 Juden (3 Prozent). Die Hälfte der Araber wurde als drogenabhängig bezeichnet. Von den Süchtigen, die bei der Studie mitwirkten, hatten die allermeisten arbeitslose Väter. Viele entstammten Einelternfamilien. Nur jeder Dritte hatte die Schule bis zum neunten Jahr durchlaufen. Die zweite Intifada soll die Zahl der Süchtigen nochmals in die Höhe getrieben haben – die Fachleute vermuten, dass bereits 19'000 Palästinenser in Jerusalem Drogen nehmen oder Alkoholiker sind (in der Westbank und dem Gaza-Streifen soll es je 5'000 Süchtige geben). Die oberste israelische Behörde für den Kampf gegen den Drogenmissbrauch hat keine Zahlen für Ost-Jerusalem herausgegeben.

Vom Shin Bet ausgenutzt

Der Drogenhandel ist laut der Zeitung Haaretz verbunden mit der Frage der Kollaboration mit dem israelischen militärischen Geheimdienst Shin Bet. Jerusalemer Drogenabhängige haben gestanden, dass sie irgendwann dem Geheimdienst zu Diensten waren. Palästinenser in Ost-Jerusalem kritisieren, dass die israelische Polizei nicht genug tut, um den Drogenhändlern den Garaus zu machen. Sicherheitsoperationen zur Terroristenabwehr stehen im Vordergrund, aber trotzdem frage man sich, warum Verkaufsstellen für Juden innert kurzem geschlossen würden, Verkaufsstellen für Araber hingegen lange Zeit offen stünden. Beamte der palästinensischen Sicherheitsorgane riskieren, in Ost-Jerusalem verhaftet zu werden, wenn sie gegen Dealer vorgehen.

Die Haaretz-Journalistin Amira Hass schreibt: „Die Armut in den Palästinenservierteln Jerusalems, die Vernachlässigung und die hohe Suchtrate sind ein fruchtbarer Boden für Verschwörungstheorien, wonach die israelischen Behörden und die Polizei bewusst den sozialen und moralischen Zerfall betreiben, der zur Schwächung der palästinensischen Gemeinschaft führt.“ Die Polizei der Stadt weist solche Vermutungen scharf zurück und verweist darauf, dass letztes Jahr im Ostteil der Stadt im Drogenbereich mehr unternommen wurde. Die israelischen Behörden betonen auch die Bereitschaft in der palästinensischen Gesellschaft, im Kampf gegen Drogen aktiv mitzuwirken.

Datum: 05.02.2003
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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