Wie viel Sucht leistet sich die Schweiz?

Wie viel Sucht leistet
Cannabis nicht als weiche Drogen hinstellen: Dr. Daniel Beutler in Winterthur.
In der Sucht positive Entwicklung ermöglichen: Dr. Toni Berthel sprach sich fürs revidierte Gesetz aus.
In der Repression nicht nachlassen: René Isler sieht mehr Gefahren als Chancen im Gesetz.

Mit den beiden Drogenvorlagen steht erneut zur Debatte, wie die Wohlstandsgesellschaft mit Süchtigen und Suchtmitteln umgeht. Leistet sie sich Verelendung auf hohem Niveau – oder hilft sie den Betroffenen wirksam, in ein drogenfreies Leben zurückzufinden?

Der Hinweis, das frühere Elend offener Drogenszenen könne niemand wollen, dient landauf landab der Werbung für das neue Betäubungsmittelgesetz. Als würden dieses und die Hanf-Initiative den Umgang mit Drogen gefahrloser machen. Im Wust der Abstimmungsvorlagen des 30. Novembers droht das Thema Drogen unterzugehen.

Heroin-Abgabe: Erfolg…

Bloss 20 Personen verfolgten letzte Woche in Winterthur ein Podiumsgespräch, für das die EDU kompetente Befürworter und Gegner geladen hatte. Toni Berthel legte mit der Aura des überaus erfahrenen Drogenarztes und Leiters des regionalen Abgabeprogramms dar, was die Medizin Drogensüchtigen heute bietet. „Vielen Schwerkranken wurde das Leben gesichert, sie sind nicht mehr ausserhalb der Gesellschaft und können sich positiv entwickeln.“ Dies sei als grosser Erfolg zu werten angesichts der jährlich bis zu 400 Drogentoten Anfang der 90er Jahre.

…oder untauglicher Weg?

Das revidierte Betäubungsmittelgesetz (BetmG), das die EDU mit dem Referendum verhindern will, bezeichnet die heroingestützte Behandlung als einen Therapieweg. Dies ist und bleibt für den Arzt Daniel Beutler, der in der christlichen Institution ‚Marchstei’ Drogensüchtige betreut, eine Sackgasse. Er sehe die Tragik der offenen Szenen, entgegnete er Berthel. Doch mit der Heroinabgabe werde der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben.

Das Leben mit dem Stoff vom Staat

Dass jene, die Heroin oder Methadon vom Staat erhalten, weiterhin grossenteils kein normales Leben führen, gestand Berthel ein. Dies sei jedoch nicht auf die Sucht zurückzuführen. In seinem Programm litten 70% unter Hepatitis C, einer von sieben sei HIV-positiv, einige seien psychisch schwerkrank. Insgesamt wirke die Heroinabgabe zur Stabilisierung und sei eine „Basis, ein erster Schritt um weiterzugehen“. Beutler dagegen weiss von “sehr viel Hoffnungslosigkeit“. Süchtige sprechen, so der Arzt aus dem Gürbetal, vom staatlichen Programm als der letzten Station: „Wenn ich dorthin gehe, bleibe ich dort.“ Die Suizidrate sei hoch.

Beutler befürwortet grundsätzlich die Palette der Mittel, die das Gesetz den staatlichen Stellen gibt. Doch „Drogensüchtige können sich wie in einem Warenhaus posten, was sie wollen.“ Zudem spreche das revidierte Gesetz nicht von Heroin-Abgabe, sondern von Betäubungsmittel-Abgabe – hier stehe die Tür offen für eine Ausweitung. Er verwies auf das Gesuch des Sozialmediziners Felix Gutzwiller, die Kokain-Abgabe zu prüfen. Für Berthel ist sie jetzt und in Zukunft keine Option. (Bekanntlich nimmt der Kokain-Konsum in Europa weiter zu.) Doch es kämen neue Medikamente auf den Markt.

Den Weg zur Abstinenz ebnen

Der Staat soll laut Beutler auf den Ausstieg und ein drogenfreies, selbstbestimmtes Leben hinwirken. Doch im BetmG werde der Zugang zu abstinenzorientierten Therapien nicht geebnet. Sie befänden sich im Warenhaus sozusagen im 4. Stock – ohne Rolltreppe: „Der Süchtige macht sich nicht mehr auf den Weg in die abstinenzorientierte Therapie.“

Toni Berthel hielt dagegen, bei der Drogenabgabe arbeiteten die Ärzte aufgrund klarer Indikationen und verantwortungsbewusst. Die Empfänger hätten mehrere stationäre Drogentherapieversuche hinter sich – und den Ausstieg nicht geschafft. Nach dem Entzug sei (bei Rückfall) die Todesrate am höchsten. Der Winterthurer SP-Politiker Nicolas Galladé, der mit Berthel für BetmG und Hanf-Initiative eintrat, meinte, jenen, die den Ausstieg mehrmals vergeblich versucht hätten, sei er nicht mehr aufzudrängen.

Kampf gegen die Dealer

René Isler, Kantonsrat der Winterthurer SVP und Polizist, hob als vierter Teilnehmer des Podiums die Vorzüge des bestehenden BetmG hervor. Es erlaube die Sorge für Schwerstsüchtige. Die Repression dürfe nicht aufgeweicht werden; das Gesetz müsse insgesamt auf Abstinenz, auf ein Leben ohne Drogen zielen. Das neue Gesetz erschwere den Kampf gegen die Dealer. Das Argument von Galladé, der Jugendschutz solle verschärft werden, liessen die Gegner nicht gelten. Beutler sagte, das Strafgesetzbuch werde unterhöhlt. Der gewerbsmässige Handel mit Drogen sei schwer nachzuweisen.

„In der Sucht sinnvolles Leben“

In den Therapiestationen zeigt sich, dass für viele „der sofortige Weg zur Abstinenz nicht in Frage kommt“. Daniel Beutler: „Man kann sie nicht dazu zwingen.“ Doch führe die Heroinabgabe dazu, dass Drogenärzte Klienten „in der Sucht festhalten“. Berthel entgegnete, die Menschen seien abhängig an die Stellen gelangt. „Wir haben sie nicht süchtig gemacht. Bei uns konsumiert er nicht mehr unkontrolliert. Auch innerhalb einer Sucht ein sinnvolles Leben zu führen: das ist unser Ziel. Auch Süchtige haben Recht auf Teilhabe an dem, was die Ges ihnen bietet.“ Die Ärzte unterstützten jeden, der abstinent werden wolle.

Kontroverse zur Hanf-Initiative

Im zweiten Teil des Gesprächs erörterten die vier Teilnehmer unter Leitung des Landbote-Redaktors Fredy Kradolfer die Hanf-Initiative. Dass Cannabis (mit dem heutigen hohen THC-Wert) die Einstiegsdroge Nr. 1 ist, wurde bestritten. Die bisherige Verbotspolitik fördere die Nähe von Cannabis zu den harten Substanzen, sagte Galladé. Toni Berthel meinte, man wolle die Gefahren von Cannabis, das wie jede Substanz Nebenwirkungen habe, nicht verniedlichen. Doch sei ein Weg zu suchen, „in unserer Gesellschaft anders mit dieser Substanz umzugehen“. Der Konsum sei in den letzten Jahren zurückgegangen. Doch „Jugendliche, die psychoaktive Substanzen konsumieren, haben häufig psychische Probleme“.

Jugendliche schützen mit Legalisierung?

Berthel zog den Alkohol als Parallele herbei: Nach seiner gesetzlichen Regulierung sei der Konsum (vor 100 Jahren doppelt so hoch wie heute) zurückgegangen. Bisher habe das Gesetz überhaupt nichts gebracht. „Eine Substanz, die von vielen Menschen in der Schweiz konsumiert wird, zu kriminalisieren, ist der falsche Weg.“ Man müsse Jugendliche schützen vor Folgen übermässigen Konsums. „Der gelegentliche Konsum führt zu keiner nachgewiesenen Schädigung – ausser bei vulnerablen Persönlichkeiten.“

Legalisierung ein „falsches Signal“

Beutler widersprach: Das bestehende Gesetz sei lange nicht mehr durchgesetzt worden! Angesichts der Komplexität der Substanz Cannabis sei es „bireweich“, sie als weiche Droge hinzustellen. „Die unterschwelligen Psychosen erscheinen gar nicht in der Statistik. Denn die Leute gehen gar nicht in die Klinik, da die Störungen mit Medikamenten behandelt werden.“

René Isler protestierte gegen die Stossrichtung der Hanf-Initiative. Sie sei für Jugendliche ein völlig falsches Signal. Beutler fügte an, man solle sich nicht der Illusion hingeben, bei einer Legalisierung verschwinde der Schwarzmarkt. Und: „Jugendliche unter 18 schicken Ältere für den Kauf vor.“

Links zum Thema:
2x Nein: EDU-Flyer zur Abstimmung
Argumente gegen das revidierte Betäubungsmittelgesetz
Gegen die Liberalisierung des Drogenhandels in der Schweiz – eine Juristenmeinung
Webseite der Hanf-Initiative
Komitee für das revidierte Betäubungsmittelgesetz

Datum: 07.11.2008
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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