Angst, Sorge und Wut fuhren in die Menschen, als am Donnerstag, zwei Wochen nach dem 7. Juli, im Londoner öffentlichen Verkehr vier weitere Anschläge inszeniert wurden. Die schwachen Detonationen forderten nach ersten Angaben keine Opfer. Am Freitag jagten und erschossen Sicherheitsbeamte einen Verdächtigen. Inayat Bunglawala vom gemässigten ‚Muslim Council of Britain' forderte alle Gemeinden auf, der Polizei bei der Ergreifung der Terroristen und ihrer Hintermänner zu helfen. "Sie müssen gefasst werden, bevor sie weiteren Unschuldigen Leid antun können." Ein Sprecher der ‚Islamic Society of Britain' brachte die tiefe Erschütterung und Ratlosigkeit der Muslime zum Ausdruck. "Es ist uns, als befänden wir uns auf dem Meer, kein Land in Sicht, und trieben immer weiter ab. Wir wissen nicht, was zu tun ist." Die Bemerkungen eines führenden Schweizer Muslims stehen dazu in einem deutlichen Kontrast. Farhad Afshar, Leiter der Koordinationsstelle Islamischer Organisationen in der Schweiz KIOS, sagt der NZZ am Sonntag (Ausgabe vom 17. Juli), den Frieden könne man "nicht mit Mitteln des Polizeistaates sichern". Er spricht sich gegen die Überwachung von Moscheen aus - mit dem Argument, wegen einiger katholischer IRA-Kämpfer würden katholische Kirchen doch nicht überwacht. Der in Bern lehrende 63-jährige Soziologe, ein Schiit iranischer Herkunft, fordert im Interview, dass den Muslimen nicht nur politische Rechte, sondern auch die Teilnahme am politischen und sozialen Leben gewährt werden. (Die Wahl von Türken ins Parlament von Basel-Stadt zeigt, dass es wesentlich auf ihr eigenes Engagement ankommt.) Afshar hat vor Jahren in einem Vortrag in Frauenfeld die Bedeutung der Landessprache für die Integration heruntergespielt - er plädierte stattdessen für mehr Einfühlungsvermögen der Eingesessenen für die Minderheit. Nun bemerkt er in der NZZ am Sonntag, dass die Muslime aufgrund der kantonalen und Gemeinde-Kompetenzen in der Schweiz "zwar theoretisch Religionsfreiheit geniessen, aber in der Praxis keine Moscheen oder Friedhöfe errichten können". Wie dem abzuhelfen ist, weiss der KIOS-Präsident auch: "Es ist an der Zeit, dass dieser Zustand mit einer gesetzlichen Vereinheitlichung auf Bundesebene und der rechtlichen Anerkennung der Muslime als Religionsgemeinschaft beendet wird." Die Regelung von Kirchen- und Religionsangelegenheiten obliegt seit Gründung des Bundesstaates 1848 den Kantonen. Vor den Anschlägen von Madrid und London hat das Zürcher Stimmvolk Ende 2003 ein Gesetz, das die kantonale Anerkennung des Islam ermöglicht hätte, klar abgelehnt. Seit Jahren plädiert andererseits der Schweizerische Evangelische Kirchenbund SEK für einen ‚Rat der Religionen' als Ansprechpartner des Bundes; von den Muslimen wirkte in den Vorbereitungsgesprächen Afshar mit. Die KIOS, die präsidiert, ist nicht der einzige Versuch, die Muslime landesweit unter ein Dach zu bringen. Nach Afshar haben sie erst "eine Reihe von Kantonalverbänden und Ansätze für eine nationale Dachorganisation" - die meisten sind bekanntlich in den letzten 25 Jahren zugewandert und stark durch ihre Sprache, nationale Kultur und religiöse Eigenheiten (Alewiten!) bestimmt. Darauf nimmt der KIOS-Präsident Bezug, wenn er die ethnische Struktur vieler muslimischer Institutionen erwähnt, welche "dem Charakter der islamischen Glaubensgemeinschaft" widerspreche. An diesem Punkt sieht er ein Demokratiedefizit. "Es besteht ein inner-muslimischer Reformbedarf… Es gibt also noch viel zu tun, bis wir eine Organisation geschaffen haben, die in etwa jener der evangelischen Kirchgemeinden entspricht. Das muss das Ziel sein, denn erst dadurch erhalten die muslimischen Vertretungen demokratische Legitimität." Radikalisierung könnten die islamischen Gemeinden selbst wirkungsvoller verhindern als der überwachende Staat, meint Afshar. Denn sie könnten radikale Tendenzen bekämpfen und Mitglieder "notfalls ausschliessen". In Basel und im Wallis sei dies geschehen. Er will nicht sagen, es gebe in der Schweiz keine radikalen Muslime - aber es sei sehr unwahrscheinlich, "dass diese an den Moscheen wirken können". Um der Gefahr vorzubeugen, will Afshar die Ausbildung von Imamen in die Schweiz holen, "damit sie mit Kultur und Recht des Landes vertraut sind und keine radikalen Tendenzen und Auslandsabhängigkeit ins Land tragen". Leider habe die SVP gegen das entsprechende Projekt an der Universität Luzern gekämpft."Kein Land in Sicht"
Gegen polizeiliche Überwachung
Afshar: Wahre Religionsfreiheit = Bau von Moscheen
Für staaatliche Anerkennung auf Bundesebene
Ethnisch, kulturell und religiös zersplitterte Muslime
Muslim-Leiter bisher nicht demokratisch legitimiert
Gemeinden sollen Radikale "notfalls ausschliessen"
Imame hier ausbilden - trotz SVP
Datum: 23.07.2005
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch