Gret Haller: Religion soll sich dem Recht unterordnen

Gret Haller
Sarajevo
Universität Fribourg

Die Theologie in Europa muss die Säkularisierung der Religion und damit deren Einbindung in eine übergeordnete Rechtsordnung positiv annehmen und lehren. Denn in der Säkularisierung der Religion sei das Grundmuster zur Überwindung aller Fundamentalismen angelegt. Das unterstrich die Schweizer Europa-Politikerin Gret Haller am Montag in Freiburg am Kongress der Europäischen Gesellschaft für Katholische Theologie.

Haller sprach vor rund 200 Theologen aus über 20 Ländern über "Erwartungen einer europäischen Politikerin an den Beitrag der Theologie zum Frieden". Für falsch halte sie die geläufige These, wonach der Westen säkularisiert sei und der Osten fundamentalistisch, weshalb ein baldiger "Zusammenprall der Kulturen" unumgänglich sei, betonte Gret Haller gleich eingangs.

Die 57-jährige Berner Juristin sass früher im Nationalrat. Ihren Blick für die Zusammenhänge hat sie in den letzten Jahren vor Ort geschärft: Sie war von 1996 bis 2001 als Ombudsfrau für Menschenrechte in Sarajewo tätig, der Hauptstadt des multiethnischen Staates Bosnien-Herzewogina.

Recht: keine absolut gesetzte Wahrheit

Religionen müssten sich in eine übergeordnete Ordnung einbinden lassen, sonst würden sie über kurz oder lang gewalttätig, meinte Haller. Indem Religionen ihre Wahrheit absolut setzten, nähmen sie zwangsläufig "fundamentalistische Züge" an. Dabei werde notfalls auch mit Gewalt missioniert. Gelinge Missionierung nicht, so strebe der Fundamentalismus die Vernichtung der "Ungläubigen" an, und deshalb teile er auch die Welt ganz allgemein in Gut und Böse ein.

Demgegenüber entstehe jede rechtliche Ordnung in einer Auseinandersetzung darüber, was Recht sein solle. Recht sei "nie absolut gesetzte Wahrheit" und teile nicht in Gut und Böse ein. Eine Rechtsordnung habe sogar das Umgekehrte im Sinn: Sie wolle mithelfen, die Einteilung in Gut und Böse überwinden zu helfen, indem sie festhalte, was richtig und unrichtig oder was erstrebenswert und was vermeidenswert sei. Zwar träfen bei der Rechtssetzung verschiedene Moralvorstellungen in den parlamentarischen Diskussionen aufeinander, das so gesetzte Recht sei jedoch "moralisch neutral".

Während der Fundamentalismus die "Auserwähltheit" kenne, gebe es im Recht nur die "Gleichheit der Beteiligten". Gleichheit und Auserwähltheit schlössen sich gegenseitig aus, denn "überall, wo es Auserwählte gibt, muss es auch Nichtauserwählte geben".

Westfälischer Friede war Epochenschwelle

Der Säkularisierung in Europa zum Durchbruch verholfen hat im 17. Jahrhundert nach den leidvollen Religionskriegen der Westfälische Friede (1648), in den Augen Gret Hallers eine eigentliche "Epochenschwelle". Mit ihm sei die Religion in eine übergeordnete staatliche Ordnung eingebunden worden, das Prinzip der Gleichheit der Staaten festgeschrieben und das Völkerrecht erfunden worden, unterstrich Gret Haller.

Nach der "absolut gesetzten Wahrheit der Religion" sei später jedoch das "absolute Bekenntnis zur Nation" mannigfache Kriegsursache geworden. Nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges habe man deshalb auf das durch den Westfälischen Frieden vorgegebene Muster der Säkularisierung der Religionen in Europa zurückgegriffen: Die Europäische Union sei nichts anderes als die Einbindung der Nationen in eine übergeordnete rechtliche Ordnung, und so betrachtet könne man von einer "Säkularisierung der europäischen Nationen" sprechen.

Ohne Auserwähltheit und ohne absolute Wahrheit

Weil die Säkularisierung der Religion – ihre Einbindung in eine übergeordnete Rechtsordnung – das Muster für die Säkularisierung der Nationen darstelle, müsse die Theologie die eigene Säkularisierung positiv annehmen, weitergeben und auch lehren, unterstrich Haller.

Der aus der Religion stammende Gedanke der "Gottesebenbildlichkeit" könne erst dann unterstützend in die Vorstellung der Gleichheit aller Menschen und ihrer Würde eingebracht werden, wenn die Religion ihre eigene Säkularisierung "klar und unwiederbringlich" in sich aufgenommen habe. Das sei dann der Fall, wenn dieser Gedanke der "Gottesebenbildlichkeit erstens jede Spur von Auserwähltheit hinter sich gelassen hat und er zweitens keinen Anspruch auf absolute Wahrheit mehr stellt."

‚Kultureller Fundamentalismus’

Eine Art von "kulturellem Fundamentalismus", wie er sich in der Theorie vom "Zusammenprall der Kulturen" manifestiere, sieht Gret Haller seit dem Vorfeld des 21. Jahrhunderts in Europa aufkommen. Auch in diesem Falle könne die Antwort keine andere sein: Es müsse die Einbindung der verschiedenen Kulturen in eine übergeordnete rechtliche Ordnung geleistet werden, wie sie in Anfängen im Völkerrecht und in den Vereinten Nationen vorhanden sei.

Datum: 01.09.2004
Quelle: Kipa

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