Islamisches Kopftuch: Freiheit zum Schaden der Gleichheit?

Unauffällig im Gewerbequartier: Moschee in der Ostschweiz
Kopftuch

Viele in der Schweiz lebende Muslime haben sich in den letzten Jahren deutlicher zur Kultur, der sie entstammen, und zur Religion Mohammeds bekannt. Manche Mädchen und Frauen tragen das Kopftuch nicht (nur) aus Gründen des Brauchtums, sondern aus persönlichem Entschluss: eine Knacknuss für Politik und Justiz.

Das Kopftuch ist nur die Spitze des Eisbergs. Wird unseren Rechtsnormen Nachachtung verschafft, oder bestimmt zunehmend die Scharia, das islamische Gesetz, das Leben der Muslime hier?

Regula Heusser befasst sich in der ‚Neuen Zürcher Zeitung’ differenziert mit den Fragen, die das islamische Kopftuch auch hierzulande provoziert. „Das Schulzimmer ist der Ort, wo religiöse Symbolik am meisten Diskussionen auslöst.“ Dabei sei gerade die Schule der Ort, wo nicht Herkunft, sondern Begabung und Leistung über den Erfolg bestimmen sollten. Früher verschleierte die Schuluniform soziale Unterschiede. In den letzten Jahrzehnten hat die Zuwanderung zu einer immer grösseren sozialen und auch kulturellen Vielfalt der Schulklassen geführt.

‚Ich zeig Dir, wer ich bin’

Jugendliche wollen laut Heusser ihre Weltanschauung in der äusseren Erscheinung zum Ausdruck bringen. „Wichtig sind die dem religiösen Repertoire entliehenen Signale: Kippa, Turban, Schleier und – in ein Schmuckstück integriert – das Kruzifix oder der Davidstern. Solche Zeichen von aussen zu interpretieren, fällt schwer.“ Das Kopftuch der Muslimin ist dabei das provozierendste Symbol: „Es steht sowohl für kulturelle und religiöse Zugehörigkeit als auch für die Kontrolle über das weibliche Geschlecht.“

Je nach Land und politischer Ideologie anders zu bewerten

Doch weist Regula Heusser darauf hin, dass die Mädchen und Frauen selbst das Zweite (Kontrolle) oft von sich weisen, wenn sie das Erste (Zugehörigkeit) unterstreichen. „Befragt man die Frauen selber, hört man oft: Wir tragen das Kopftuch, weil wir das so wollen.“ Zudem müsse man nach Ländern und ihrem gesellschaftspolitischen Klima differenzieren, meint die NZZ-Redaktorin. „Nach einem Regimewechsel (…) kann der Verhüllungszwang entweder abgeschafft oder aber wieder eingeführt werden. Das kann Frauen, die emanzipiert waren und den Schleier abgelegt hatten, kränken, vielleicht ins Exil treiben.“

Um die Türkei zu modernisieren, schaffte der Staatsgründer Atatürk das Kopftuch ab und verbot den Fez, die Mütze der Patriarchen. Die junge Sowjetregierung inszenierte öffentliche Tschador-Verbrennungen in ihren mittelasiatischen Teilrepubliken. Kurz: „Kopftuchverbot kann ebenso Ausdruck einer autoritären Staatsmacht sein wie Kopftuchzwang.“ Die NZZ-Redaktorin findet das französische Verbot des Kopftuchs an den öffentlichen Schulen paradox.

Öffentlicher Raum – zwischen staatlicher und Privatsphäre

Auch in der Schweiz hat sich die Spannung „zwischen Gleichheit und Freiheit, zwischen Assimilation und Multikulturalismus“ deutlich verschärft. Der Berner Staatsrechtler Walter Kälin unterscheidet in seinem Buch ‚Grundrechte im Kulturkonflikt’ (Zürich, 2000) den staatlichen Raum, wo das Prinzip der Gleichbehandlung gilt, vom privaten Raum, wo Freiheit und Vielfalt zu gewährleisten sind, soweit nicht Rechte anderer verletzt werden. Heusser: „In der Mitte liegt der Bereich der Öffentlichkeit, wo Menschen verschiedener Prägung und Lebensart aufeinander treffen. Hier – in der Schule und in weitern Einrichtungen – kann sich abspielen, was man als Kulturkonflikte bezeichnet.“

Diese werden oft juristisch ausgetragen, wobei Entscheide manchmal von höheren Instanzen umgestossen werden oder letztgültige Entscheide auf Kritik stossen. Heusser erwähnt das Unverständnis, mit dem die Dispensierung eines muslimischen Mädchens vom Schwimmunterricht durch das Bundesgericht 1993 aufgenommen wurde.

Arbeitssuche erschwert

In der Schweiz ist nur den Lehrerinnen im Unterricht das Tragen des Kopftuchs verboten. Heusser erwähnt, dass „muslimische Frauen in der Schweiz oftmals eine klare Diskriminierung erfahren, wenn sie bei der Stellensuche das Kopftuch tragen“. Dabei brächten sie doch mit der Stellensuche eben nicht Unterdrückung durch das andere Geschlecht, sondern Selbständigkeit zum Ausdruck (im Nahen Osten werden Frauen teils vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen).

Das Kruzifix im Tessiner Schulhaus

Frankreich zählt inzwischen über fünf Millionen Muslime. Die stolze Republik sucht ihren säkularen Charakter zu bewahren, indem sie auf mit eine (religions)freien öffentlichen Raum pocht. Auch auffällige Kreuze haben demnach keinen Platz mehr in den Schulen. In einer Tessiner Schule musste das Kruzifix 1990 nach einem Bundesgerichtsentscheid entfernt werden.

War da ein „Ausfluss heimischer Volkskultur“ in einem unverhältnismässigen Entscheid verboten worden (wie der Luzerner Jurist Walter Gut urteilte) oder muss man Kleidungsstücke wie das Kopftuch und religiöse Symbole wie das Kreuz unterschiedlich behandeln (so Yvo Hangartner)? Heusser meint, wenn Kreuze im öffentlichen Raum in katholischen Gebieten als „Ausdruck der Zivilreligion“ gälten, sollte man ebenso erwägen, dass „islamische Symbole eher Volkstum denn religiösen Eifer zum Ausdruck bringen“.

Wer fördert die Fundamentalisten?

In Grenchen überlegt nun aber der Stadtpräsident und SP-Nationalrat Boris Banga, das muslimische Kopftuch in den Schulen zu verbieten. Der Präsident der Erziehungsdirektorenkonferenz Hans Ulrich Stöckling meint, dies dürfte den Fundamentalisten Auftrieb geben. Heusser: „Wenn über vier Prozent der Wohnbevölkerung Muslime sind, geht der Weg zur Integration wohl tatsächlich nicht über Kleidervorschriften. Viel eher wäre auf Taten zu achten, denn diese haben mehr Gewicht.“

Anderseits leben in der Deutschschweiz viele Türken, denen die deutsche „Islamische Gemeinschaft Milli Görüs“ (IGMG) bekannt ist. Die islamistische Organisation hat über 25'000 Mitglieder und strebt laut dem deutschen Verfassungsschutz „die allmähliche Re-Islamisierung der türkischen Gesellschaft und darauf aufbauend die Umbildung des laizistischen türkischen Staats- und Regierungssystems im Sinne einer islamischen ‚Gerechten Ordnung’ unter Ausschöpfung aller legalen Mittel an. An dieser Vorgehensweise orientiert sich die IGMG auch in Bezug auf ihre Aktivitäten in Deutschland. Ihr Ziel ist, den Anhängern auch hier ein Scharia-konformes Leben zu ermöglichen.“

Abschottung statt Integration

Der deutsche Verfassungsschutz macht in seinem Jahresbericht 2002 darauf aufmerksam, dass es Organisationen von Muslimen gibt, „die unter Ausnutzung der rechtsstaatlichen Instrumentarien (=legalistisch) islamistische Positionen auch im gesellschaftlichen Leben Deutschlands durchsetzen, mindestens aber Freiräume für organisierte islamistische Betätigung in Deutschland erlangen wollen und so – desintegrativ – zur Bildung einer islamistischen Binnengesellschaft beitragen“. Daher sei die Auseinandersetzung mit dem Islamismus auf sehr unterschiedliche Art und Weise zu führen.

Ungleiche Rechte von Mann und Frau

Gemäss der Scharia haben Männer und Frauen nicht die gleichen Rechte. Dies widerspricht unserem Rechtssystem. Unser freiheitliches Gemeinwesen geht schweren Zeiten entgegen, wenn seine Normen nicht mehr durchgesetzt werden.

Im ‚Zürcher Oberländer’ hat Christoph Vollenweider kürzlich darauf hingewiesen, dass der Schutz vor den Versuchungen des Alltags, der (gemäss Koran) als Grund fürs Kopftuchtragen angegeben wird, nur für Mädchen und Frauen nötig sein soll, nicht aber für Männer und Knaben: „Gerade damit manifestiert sich die … Ungleichheit, die nicht mit unseren Wertvorstellungen kompatibel ist.“ Laut Vollenweider setzt sich die ungleiche Behandlung der Mädchen nach der Schulzeit „oft genug fort: Viele werden zwecks Verheiratung in die Heimat zurückgeschickt“.

Genfer Muslim: Steinigung nach Ehebruch angezeigt

Wohin islamische Treue zur Tradition führen kann, zeigt der Fall des Genfers Hani Ramadan, eines Enkels des Gründers der Muslimbruderschaft. Dr. phil. Hani Ramadan (nicht zu verwechseln mit seinem noch viel prominenteren Bruder Tariq) war als Französischlehrer angestellt; er leitet eines der beiden grossen islamischen Zentren der Calvinstadt. Als er sich letztes Jahr öffentlich für die Steinigung als Strafe bei Ehebruch aussprach, verlor er seine Stelle beim Kanton.

Die Rekurskommission befand jedoch am 3. April, Ramadan habe zwar ausdrücklich Werte vertreten, die denjenigen demokratischer Gesellschaften zuwiderliefen und auch gegen Grundsätze des Unterrichts an öffentlichen Schulen verstiessen. Doch er hätte dafür bloss verwarnt werden sollen. Die Kommission ordnete deshalb an, Ramadan sei wieder einzustellen. Zudem sprach sie ihm eine Abfindung von 5000 Franken zu.

Für Scharia-Auffassung: Rekurs nach Schweizer Recht!

Die Genfer Regierung beharrt allerdings auf der Kündigung. Der Staatsrat wird eine neue administrative Untersuchung gegen Ramadan eröffnen, weil er seine Aussagen Anfang April in einem Zeitungsinterview bekräftigt hat.

Der prominente Muslim hat rechtliche Schritte angekündigt und beklagt sich, dass die Regierung die „richterliche Autorität dieses Landes in Frage“ stelle. Laut der NZZ verraten „Ramadans stures Beharren auf den strafrechtlichen Bestimmungen der mittelalterlichen Scharia und seine buchstabengetreue Lektüre des Koran ein vom Geist der Aufklärung in keiner Weise berührtes Denken.“

Deutsche Muslim-Dachverbände verdammen Terrorismus

Den schweren Imageschaden, den die Umtriebe extremistischer Muslime im Westen der gesamten Gemeinschaft verursachen, versuchen die islamischen Dachorganisationen Deutschlands zu begrenzen. In einer am 5. April in Bonn veröffentlichten gemeinsamen Erklärung distanzieren sich der Zentralrat der Muslime in Deutschland und der Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland von den jüngsten Anschlägen islamistischer Terroristen.

Die muslimischen Dachverbände verurteilen Terrorismus als „abgrundtiefen Verfall aller Massstäbe der Menschlichkeit und der Vernunft und als Widerspruch zu den Lehren aller Offenbarungsreligionen“. Weiter heisst es, „wer solche Verbrechen duldet, gutheisst oder gar deckt, macht sich der Mittäterschaft schuldig. Für solche Täter oder Mittäter wird es in unseren Gemeinden kein Verständnis, keinen Platz und keine Unterstützung geben“. Es handelt sich um die erste gemeinsame Erklärung der beiden grössten Dachverbände muslimischer Organisationen in Deutschland.

Datum: 21.04.2004
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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