Justitia

Justitia
Head
Docht

«Selbst die allerschlechteste christliche Welt würde ich der besten heidnischen Welt vorziehen, weil es in einer christlichen Welt Raum gibt für Behinderte, Kranke, Alte und Schwache.»
Heinrich Böll

Das Thema GERECHTGKEIT ist mir mehrere Schuhnummern zu gross. Trotzdem muss und will ich mich als Richterin der Frage nach der Gerechtigkeit immer wieder stellen. Ich lese regelmässig in der Bibel und mir fällt auf, dass Gerechtigkeit auch zu tun hat mit unserem Umgang mit kranken und schwachen Menschen. In meinem Alltag behandle ich Beschwerden gegen fürsorgerische Freiheitsentziehungen[1] und bin regelmässig konfrontiert mit psychisch kranken Menschen. Es geht dabei in der Regel um die Frage, ob und wie lange ein psychisch kranker Mensch gegen seinen Willen in einer Klinik zurückbehalten und behandelt werden darf.

Es ist nicht möglich, mittels des richtigen Paragraphen ein gerechtes Urteil zu fällen. Was bedeutet überhaupt Gerechtigkeit, wenn auf der einen Seite die persönliche Freiheit eines Menschen klar verletzt wird und es andererseits darum geht, ihm mit den Möglichkeiten der heutigen Medizin zu helfen beziehungsweise Hilfe aufzuzwingen? Häufig gilt es zu entscheiden, welche Lösung die weniger schlechte Variante ist, entgegen allem Gerechtigkeitsempfinden.

Handeln wir gerecht als Gesellschaft?

Manchmal leide ich darunter, dass wir als ganze Gesellschaft an psychisch kranken Menschen ungerecht handeln. Zum Beispiel betrifft die Krankheit der Schizophrenie meistens intelligente, begabte, sensible Menschen. Aber sie passen nicht beziehungsweise nicht mehr in unsere erfolgs- und wirtschaftsorientierte Welt, weil sie uns Angst machen und im Alltagsstress stören. Gerechtigkeit geht alle an, ganz besonders erfolgreiche Führungskräfte. Erlauben wir die Frage an uns, ob wir zum Beispiel psychisch kranken oder labilen Mitarbeitern gegenüber gerecht handeln? Ist es nicht ungerecht, wenn wir als Gesellschaft Ruhe und Ordnung aufrecht erhalten, indem wir auffällige, lärmende Menschen ausgrenzen oder in eine geschlossene Anstalt einweisen? Wir meinen, unbequeme Leute nicht auszuhalten, statt mit ihnen Beziehung zu wagen. Gerade das fehlt ihnen oft am allermeisten.

Ernst genommen werden; sich in seiner Art geliebt fühlen, kann mehr bewirken als nur eine Behandlung mit Medikamenten. Neuroleptika haben neben der gewollten Wirkung (Entspannung, weniger Angst, weniger Halluzinationen) auch unangenehme Nebenwirkungen und beeinträchtigen die Lebensqualität. Wertschätzung und Annahme können wir nicht einfach an medizinisches Fachpersonal delegieren, da sind wir alle gefragt. Wir müssen als Gesellschaft wieder lernen, alte, schwache, kranke und behinderte Menschen zu integrieren.

Ein Urteil fällen

Was ist der Ursprung der Worte Gerechtigkeit und Richten? Richten kommt von «ausrichten», «ausgerichtet sein auf» und hat etwas zu tun mit «ein Urteil fällen ohne Ansehen der Person». In der Tätigkeit der Gerichte und der Gesetzgeber geht es bei Gerechtigkeitsfragen oft um ein Spannungsverhältnis zwischen der Freiheit des einzelnen und der Solidarität mit dem Nächsten beziehungsweise dem Kollektiv. Hans Peter Walter schreibt in seinem Aufsatz zum Thema «Psychologie und Recht aus der Sicht eines Richters»:
«Der Richter ist als sozialer Arzt gerufen, sein Instrumentarium zur Konfliktbehandlung einzusetzen. Er hat sich bewusst zu werden, dass das Gericht letztlich ein Ort des Schmerzes der Gesellschaft ist, wo sich Rechtsuchende und Pflichtvergessene begegnen. Richten in diesem Bewusstsein aber heisst vorerst nicht verurteilen, sondern lenken, wie der Steuermann nach sorgfältiger Sichtung und Würdigung aller verfügbaren Daten das Steuer auf das Ziel richtet, und richterliche Autorität ist dergestalt nicht Macht als unbarmherzige potestas, sondern – abgeleitet aus dem lateinischen augere – Förderung, Stärkung, Befreiung – Zustände mithin, die mit Unterdrückung und Verdrängung nichts gemein haben.»

Schicksal eines kranken Menschen

Dies erlebe ich besonders stark. Jede Verhandlung in der Psychiatrie ist ein Ort des Schmerzes und es geht darum, das Schicksal eines kranken Menschen zu lenken. Trotz gutem Willen und bestem Einsatz von Seiten der Psychiatrie und des Gerichts ist das sichtbare Ergebnis aber oft nicht Förderung und Befreiung, sondern es löst Reaktionen wie Wut, Tränen und auch Aggressionsdurchbrüche aus. Die schönen Momente für uns Richter sind jene Verhandlungen, die dazu führen, dass der Patient eine gewisse Freisetzung erlebt, sei es durch Entlassung aus der Klinik, manchmal aber auch nur durch eine innere Befreiung vom Gefühl, ungerechterweise und rechtlos ausgeliefert in der Klinik zu sein. So kann eine Gerichtsverhandlung manchmal zu einem weiteren freiwilligen Aufenthalt in der Klinik führen und damit zu einer Verbesserung des psychischen Zustands und der Lebensqualität des Patienten beitragen.

Ganz ähnlich verstehe ich in der vertikalen Beziehung auch das Richten Gottes, der uns nicht verurteilen und bestrafen will, sondern uns mit seinen Geboten ausrichten will, damit wir ein lebenswertes Leben führen und seine Gemeinschaft, seine Hilfe und seine Liebe erleben, und zwar sowohl in der Horizontalen, d.h. im menschlichen Miteinander, als auch in der Vertikalen, also in der Beziehung zu Gott selber.

Geist, Seele und Leib

Das führt zu weiteren Gedanken. Gemäss der Bibel besteht der Mensch aus den drei Komponenten Geist, Seele und Leib. Für alle drei Bereiche frage ich nach der Gerechtigkeit.

Dem Körper gerecht werden, darüber hören und lesen wir heute viel. Es geht darum, gesund, genug, aber nicht zu viel zu essen und zu trinken; genug Bewegung zu haben, ausreichend zu schlafen etc.

Der Seele gerecht werden ist schon schwieriger. Für Platon hat Gerechtigkeit sogar primär mit der Seele zu tun und bedeutet einen Ausgleich zu finden zwischen Verstand, Gefühlen und Begierden. Platon meint, dass wir unserer Seele gerecht werden können, wenn wir uns nicht nur von einem Bereich leiten lassen.

Bei uns ist heute wohl die Gefahr am grössten, dass wir uns zu sehr vom Verstand regieren lassen und oft unsere Gefühle zu wenig ernst nehmen. Gerechtigkeit hat dann etwas damit zu tun, sich selber ganzheitlicher wahrzunehmen. Gefühle, Schmerzen, Mankos etc. nicht zu verdrängen, sondern sich selber zu reflektieren und auf Gefühle zu achten. Es geht auch darum, persönliche Grenzen zu beachten, diese ernst zu nehmen; nicht nur nach Leistung, Erfolg und Ansehen zu streben, um dann an einem Burn-out oder Herzinfarkt zu leiden. Es geht somit bei der Gerechtigkeit der eigenen Seele gegenüber weitgehend um unsere Psychohygiene, indem Negatives wie Ängste und Trauer nicht verdrängt, sondern aktiv verarbeitet wird.

Schattenseiten einer Seele

Der Seele gerecht werden bedeutet aber auch, sich selber einzugestehen, dass in uns Schattenseiten sind. Platon spricht diesbezüglich von Begierden. Persönlich würde ich den Begriff noch weiter fassen und uns herausfordern, wahrzunehmen, dass es in uns auch negative Gefühle und Gedanken gibt, zum Beispiel Aggressionen, Neid, Minderwertigkeit oder Überheblichkeit. Die Bibel spricht kurz und bündig davon, dass das menschliche Herz trotzig oder verzagt sei, und letztlich geht es dabei um die Sündhaftigkeit des Menschen, oder wie Paulus es ausdrückt: «Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. Wenn ich aber tue, was ich nicht will, so tue nicht ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt[2].» Diese Schattenseiten gilt es anzuschauen, und wir sind aufgefordert, unsere Schwachstellen in unser Leben zu integrieren.

Gott ist Liebe

Beim Überlegen, wie das geschehen soll, sind wir bereits bei der Frage, wie ich meinem Geist gerecht werden kann. Auch dies setzt, wie bei der Seele, Selbstwahrnehmung und Ehrlichkeit voraus. Hören wir ganz tief in uns hinein, so spüren wir nämlich alle eine Sehnsucht. Dabei handelt es sich immer um die Sehnsucht nach Liebe und eigentlich, ohne dass wir das merken – um die Sehnsucht nach Gott, denn Gott ist Liebe. Vielfach ohne das bewusst zu merken, sehnen wir uns nach unserem himmlischen Vater, der uns kennt, beschützt, mit Rat und Tat zur Seite steht, wenn nötig tröstet und uns einfach bedingungslos liebt, auch wenn wir Fehler machen und versagen.

Selbstverständlich suchen wir Liebe bei Menschen und finden sie auch, stossen aber an Grenzen. Das beweisen die Scheidungsstatistiken ebenso wie die extrem hohe Suizidrate. Die Qualität von bedingungsloser konstanter Liebe, die wir uns alle zutiefst wünschen, sind wir selber nicht fähig, einander zu geben. In unserem Innersten bleibt eine unerfüllte Sehnsucht, ein Mangel. Dies ist der Ort, wo Gott uns begegnen möchte. Jesus Christus hat auf für uns geheimnisvolle Weise die Brücke geschlagen und der Weg zu Gott Vater ist für uns wieder frei. Es braucht einzig unser Erkennen, wer Jesus ist, wer wir sind und wer wir sein können.

Leben mit Jesus

Aus eigener Erfahrung weiss ich, je intensiver wir mit Jesus leben, um so mehr können wir von ihm Weisheit, Liebe und all das empfangen, was unser Leben lebenswert macht. Das Leben wird nicht einfacher, die Umstände nicht unbedingt besser, aber tief in uns ist ein Friede, eine Zuversicht und eine Hoffnung. Je mehr wir begreifen, dass Jesus uns liebt und immer für uns und mit uns ist, um so weniger müssen wir unsere Defizite auf Kosten anderer Menschen füllen. Nur aus der Beziehung mit Gott werden wir unserem Geist gerecht und können dadurch etwas dazu beitragen, dass auch im menschlichen Miteinander weniger Ungerechtigkeit geschieht.

Die Bundesverfassung der Schweiz beginnt nicht nur mit den Worten «Im Namen Gottes, des Allmächtigen», sondern in der Präambel steht auch, dass das Schweizervolk und die Kantone die Verfassung erlassen u.a. «in der Gewissheit, dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen»[3]. Sind wir uns als Verantwortungsträger in Politik und Wirtschaft der Bedeutung dieser Aussage bewusst?

Jedenfalls ist diese Wahrheit eine Herausforderung, aber auch eine Chance. Wo immer wir unser Geld, unsere Zeit und insbesondere auch unsere Fachkompetenz einsetzen, um das Leid von Menschen zu verkleinern, helfen wir mit, Gottes Anliegen umzusetzen. Und dies erhöht die Lebensqualität unserer Gesellschaft, ja, sie wird christlicher im Sinne von Heinrich Böll.

Autorin: Elisabeth Bauhofer, lic. iur., CH-Schinznach-Bad
seit 1996 Oberrichterin des Kantons Aargau, bearbeitet am Verwaltungsgericht Beschwerden gegen fürsorgliche Freiheitsentziehungen

[1] Entspricht in Deutschland in etwa der «Unterbringung»
[2] Römerbrief, Kapitel 7, Satz 19f
[3] Die deutsche Verfassung beginnt ähnlich der schweizerischen in der Präambel mit «Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.»

Datum: 03.06.2003
Quelle: Reflexionen

Publireportage
Werbung
Livenet Service
Werbung