Sinnsuche macht Quote

SF1

Zürich. Erwin Koller (61) leitet beim Deutschschweizer Fernsehen die erfolgreiche Sendereihe "Sternstunden", die er vor acht Jahren neu entwickelt hat, verantwortet das "Wort zum Sonntag", eine der meistgesehenen Sendungen des Fernsehens, und findet Religion ganz allgemein eine überaus spannende Angelegenheit. Ende Jahr geht der bekannte Fernsehmann nach dreissigjähriger Fernsehtätigkeit in Pension.

Aus Reibung entsteht Wärme. Fragt man Erwin Koller zum Beispiel etwas provokativ, wie er sich den Dauererfolg der Sendung "Wort zum Sonntag" erkläre, die zwar gut und recht, aber vielleicht doch etwas altmodisch sei, so hat man den debattierfreudigen Theologen und Philosophen schnell aus der Reserve gelockt. Er finde diese Sendung halt gar nicht altmodisch, denn es gehöre im Fernsehen immer noch etwas zum Spannendsten, Menschen, die etwas zu sagen hätten, beim Verfertigen ihrer Gedanken zuzusehen: "Zu behaupten, das 'Wort zum Sonntag' sei bebildertes Radio, halte ich für ein völliges Vorurteil".

Qualität aus christlicher Warte

Altmodisch oder nicht: Mit dem "Wort zum Sonntag" verantwortet Erwin Koller einen langjährigen Einschaltquoten-Renner beim Deutschschweizer Fernsehen SF DRS. Man müsse zwar nüchtern feststellen, dass die nach der "Tagesschau" und vor dem Unterhaltungsprogramm ausgestrahlte Sendung über den bestmöglichen Programmplatz verfüge, indem sie ein fixer "Waggon" im Programmzug von SF DRS am Samstag abend sei. Das "Wort zum Sonntag" habe es aber fertig gebracht, dass die Mehrheit der Zuschauer nicht zu anderen Sendern wegzappt, und das sei unbestritten ein Verdienst der Sendung.

Wenn im langjährigen Durchschnitt beim "Wort zum Sonntag" zwei Drittel bis drei Viertel jenes Publikums dranbleibt, das die zuvor ausgestrahlten Wetterprognosen verfolgt hat - die Sendung mit der höchsten Einschaltquote -, so sei dies durchaus auch auf die Qualität der Sprecherinnen und Sprecher zurückzuführen, meint Erwin Koller selbstbewusst. Ein strenges Auswahlverfahren unter etwa zwanzig Anwärtern und dann eine harte Ausbildung sorge nämlich dafür, dass schliesslich nur "die vier oder fünf Besten" anderthalb oder zwei Jahre lang regelmässig das "Wort zum Sonntag" sprechen könnten.

Doch den Erfolg der Sendung mache auch ihre Ausrichtung aus: "Wir verstehen das 'Wort zum Sonntag' ausdrücklich nicht als kirchliche Predigt, sondern wir wollen von den Sprecherinnen und Sprechern einen Kommentar aus christlicher Sicht zu Fragen des Lebens und der Gegenwart." Ein solcher Kommentar sei, davon ist Koller überzeugt, quer durch alle Gesellschaftsschichten und Generationen gefragt: "Die Sinnsuche hat heute höchste Einschaltquoten!"

Davon zeugen seit Jahren nicht nur die übervollen Regale mit Büchern über Lebenshilfe, Esoterik oder Religion in den Buchhandlungen. Das beweist auch die von Koller 1994 entwickelte Sendereihe "Sternstunden". Sie setzt sich seit acht Jahren während je einer Stunde am Sonntag morgen mit Religion, Philosophie und Kunst auseinander. Mittlerweile ist sie für ein breites Publikum zum gut besuchten "Referenzort" (Koller) geworden, an dem Fragen, Ideen und Widersprüche der Gegenwart zur Sprache kommen.

Anspruchsvollstes auf dem Boulevard

Nicht lange zögert Erwin Koller, für die "Sternstunde Philosophie" jeweils auch als Moderator im Einsatz, wenn man ihn nach der besonderen Herausforderung der "Sternstunden" fragt. "Das Fernsehen ist ein Boulevardmedium! Es gehorcht ganz eigenen Gesetzmässigkeiten, bietet aber gleichzeitig die Möglichkeit, ein breites Publikum anzusprechen. Wir können und wollen also die 'Sternstunden' nicht für Auserwählte machen, sondern müssen Formen und Umsetzungen entwickeln, die einem möglichst breiten Publikum verständlich sind." Oder anders gesagt: Die dreistündige "Sternstunden"-Mischung versucht "die höchsten und schwierigsten Gedanken umzusetzen in eine Form, die im Prinzip für jedermann verständlich ist".

Herausforderung der Zukunft - und damit seines Nachfolgers Marco Meier - werde es wohl sein, das in acht Jahren erarbeitete solide Gefäss der "Sternstunden" in den Sparten Religion, Philosophie und Kunst mit zupackender Frische neu zu füllen und nach Formen zu suchen, die ein heutiges Publikum noch besser ansprechen.

Keine Elfenbeinturm-Bewohner

Die spannenden Themen der Gegenwart für die "Sternstunden" entdecken, sei das eine, erzählt Erwin Koller. Die richtigen Fachleute finden und zum Gespräch ins Studio laden, die im Boulevardmedium Fernsehen mit Geschick von diesen "anspruchsvollen Dingen" erzählen können, sei das andere. Nicht telegen müssten die Gäste also sein, sondern vor allem mit dem Ehrgeiz und dem Willen ausgestattet, von den Zuschauern auch verstanden zu werden. Mit einem Wort: dialogfähig.

Und welches sind die Untauglichen für die "Sternstunden", die, was auch schon vorgekommen ist, nach einem Vorgespräch wieder ausgeladen werden? Wer das Fernsehen mit einem Uni-Seminar verwechsle, und wem Unterhaltung grundsätzlich verdächtig sei, der sei als Elfenbeinturmbewohner für ein Gespräch in den "Sternstunden" eher ungeeignet, erzählt der Redaktionsleiter. "Die Schwierigsten sind jene Gelehrten, die ihren wissenschaftlichen Kollegen beweisen wollen, wie gescheit sie sind und dabei jene vergessen, an die sie sich eigentlich richten sollten, die Zuschauerinnen und Zuschauer..."

Direktor statt Pressechef

Keine Streichel-Einheiten hat Erwin Koller auch für die Schweizer Bischöfe parat. Sie kämen leider immer noch höchst ungern ins TV-Studio, wenn es darum gehe, ihre Positionen zu vertreten. Bischöfliche Verärgerungen über vereinzelte journalistische Fehlleistungen des Fernsehens in Ehren, doch müsse sich jede Firma immer wieder überlegen, ob sie nun den Pressechef oder den Direktor vorschicke, wenn ein wichtiger Öffentlichkeitsauftritt anstehe: "Gelegentlich ist der Direktor angesagt, und die Bischöfe müssen selber auf den Plan treten", sagt Koller, der im übrigen überzeugt ist, dass es zum heutigen Anforderungsprofil eines Oberhirten auch gehört, "fernsehtauglich" zu sein.

Heute stehen die Zeichen für Religion nämlich so gut wie seit langem nicht mehr. In den siebziger und achtziger Jahren sei Religion in den Aktualitäten- und Magazinredaktionen des Fernsehens viel weniger thematisiert worden als heute, schätzt Koller und erzählt, wie er fast jede Woche von Kolleginnen und Kollegen des Fernsehens um Einschätzungen und Auskünfte zu religiösen Themen und Aktualitäten gebeten werde.

So viel Religion wie schon lange nicht mehr

Kollers auf den ersten Blick erstaunliche These: Religion ist in der heutigen Gesellschaft präsenter als noch vor zehn oder dreissig Jahren - wenn auch in anderer Form. Weil Aufklärung, Modernisierung und Fortschrittsdenken in Bereichen wie Atomwissenschaft oder Gentechnologie einen "gewaltigen Knick" erlitten hätten und deshalb mehr denn je über den Sinn eines Fortschritts diskutiert werde, der vor dreissig oder vierzig Jahren noch allseitig bejubelt worden sei, werde nun die säkularisierte Gesellschaft in gewissem Sinne nochmals in Frage gestellt.

Zwei Wissensströme

Er finde Religion nach wie vor "ungeheuer attraktiv", und das lasse er sich von niemandem und auch von keinem Soziologen ausreden, der mit Statistiken das Gegenteil zu beweisen suche. Verhelfe Religion zu dem, was sie eigentlich solle, nämlich zu Freiheit und Entfaltung, statt dass sie Abhängigkeiten schaffe, so treffe sie einen Kern, der sich mit dem modernsten Menschenverständnis, dem individuellen, dem personhaften Verständnis decke, meint Koller: "Da werden keine unfruchtbaren Gegensätze mehr konstruiert, sondern da ergänzen sich auf einmal wieder Welten."

Autor: Josef Bossart

Datum: 07.12.2002
Quelle: Kipa

Werbung
Livenet Service
Werbung