Völkermord an den Armeniern

«Am zweiten Tag wurden jeweils die Männer getötet»

Armenier, Assyrer, Chaldäer und Pontus-Griechen erlebten 1915 einen Völkermord in der heutigen Türkei. Daran wird in den nächsten Tagen in der Schweiz gedacht. Was damals geschah, beleuchtet Felix Ziegler (77) im Hintergrundgespräch mit Livenet.
Felix Ziegler

Felix Ziegler ist mit einer Armenierin verheiratet, von 1968 bis 1982 leitete er die armenischen Behindertenheime im Libanon. Heute wirkt er als Berater der armenisch-apostolischen Kirchgemeinde in der Schweiz.

Felix Ziegler, am 24. April steht der Völkermord an den Armeniern im Zentrum des öffentlichen Interesses. Was ist vor 100 Jahren, am 24. April 1915, geschehen?
Felix Ziegler: Das war der Startschuss für den Genozid. Man hat am 24. April in Istanbul die führenden Persönlichkeiten der Armenier verhaftet. Politiker, Geistliche, Denker, Künstler – es waren etwa 300. Manche wurden sofort hingerichtet. Zum Teil wurden sie ins tiefste Anatolien deportiert. Die meisten wurden dann unterwegs umgebracht. Damit war die armenische Bevölkerung ihrer Führer beraubt. Ohne allzu grosse Schwierigkeiten wurde dann versucht, den grossen Rest der 1,5 Millionen Armenier zu vernichten.

Was war der Hintergrund, weshalb hat die Türkei das getan?

Auf der einen Seite hatte sie Angst – der erste Weltkrieg war gerade im Gange –, dass die christlichen Minoritäten – es gab neben den Armeniern noch die Assyrer und Pontus-Griechen – die Gelegenheit ergreifen würden, um mehr Selbstständigkeit zu verlangen.

Und auf der anderen Seite machte sich damals in der Türkei unter den Führern ein Nationalismus breit: «Die Türkei den Türken – so wie Frankreich den Franzosen!» Da waren die Armenier eine störende Minderheit, die sie eliminieren wollten.

Das war der Anfang, dann folgten Todesmärsche, zum Beispiel von Erzurum nach Aleppo. Von 10'000, die in diesem Falle abmarschierten, kamen 100 an. Was ist auf den Todesmärschen geschehen?
Man sagte den Armeniern, dass sie wegen des Krieges umgesiedelt werden. Sie hatten einen Tag, manche drei Tage oder eine Woche Zeit, die Dinge zu ordnen, dann folgte der Aufbruch. Man liess sie – anfangs teils noch mit Wagen – marschieren. Die Transportmittel wurden ihnen dann nach einiger Zeit weggenommen. Meist am zweiten Tag wurden die Männer umgebracht. Die Frauen und Kinder mussten weitermarschieren. Über hunderte, tausende Kilometer in Richtung syrischer Wüste. Dabei kamen meistens drei Viertel bis neun Zehntel oder noch mehr von diesen Menschen ums Leben aufgrund von Hunger, Kälte und Entbehrungen.

Nun steht der 100-Jahre-Gedenktag an, was geschieht da?
Es geht um das Erinnern. Denn Vergessen oder Leugnen eines Völkermordes ist immer ein Grund oder eine Ermutigung für einen neuen Völkermord. Ich erinnere daran, was Hitler während der Planung des Polen-Feldzuges sagte: «Ich werde meine Totenkopf-Leute senden und die werden Männer, Frauen und Kinder töten.» Da fragte man ihn, was denn die Umwelt dazu sagen würde. Und er antwortete: «Wer redet heute noch vom Mord an den Armeniern?» Und das Gleiche geschieht heute – wenn man denkt, was in der gleichen Gegend durch den Islamischen Staat geschieht, nämlich eine Säuberung aller Minoritäten. Als Zeichen dafür haben sie im vergangenen September die armenische Gedächtniskirche, sie heisst «Kirche der Märtyrer», in die Luft gesprengt. Sie wollten damit zeigen: «Die wollen wir nicht!» Das heisst: Der Völkermord setzt sich fort.

Was geschieht nun in der Schweiz?
Am 24. April findet in Bern eine Demonstration der Armenier, Assyrer und Griechen statt zur Erinnerung an den Völkermord. Das geschieht auf dem Casino-Platz. Und um 19.15 Uhr – also symbolisch für das Jahr 1915 – findet im Berner Münster eine Seelenmesse nach armenischer Tradition statt. Anschliessend folgt ein Konzert von einem armenischen Komponisten aus der Schweiz. Unterbrochen wird dieses von Lesungen und Gedichten armenischer Poeten, die am 24. April 1915 verhaftet und umgebracht wurden. Daneben gibt es das ganze Jahr über verschiedene Ereignisse; sie sind auf dieser Internetseite zu finden.

Wie geht es heute den Armeniern in der Schweiz?
Armenier in der Schweiz fragen, warum sie da sind. Ohne den Genozid wären sie nicht hier. Sie wissen, wie sie hierhergekommen sind. Bis vor 25 Jahren gab es kein armenisches Heimatland. Wo man war, war man in der Fremde. Man hat sich überall eingepasst und seine Beiträge geleistet zu Wirtschaft und Kultur der Gastländer, aber im Grunde war man fremd.

Man spricht von den Armeniern, doch es waren auch andere Völker betroffen?
Betroffen waren auch die Assyrer, sie sprechen teils noch aramäisch, also die Sprache von Jesus Christus. Auch die Chaldäer gehörten zu den Opfern. Ihr Siedlungsraum ist ebenfalls Anatolien, der Südosten der Türkei, ein Teil des Iran und der Irak. Eine andere Gruppe sind die Griechen, die in Pontus gelebt hatten, im Gebiet des heutigen Trabzon. Sie mussten bei einem Bevölkerungsaustausch weichen, doch vorher und während der Deportation erlebten sie auch einen Völkermord.

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Datum: 19.04.2015
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet

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