In Bosnien zusammenleben lernen

Spielen macht Spass und stark

Sie haben Ausdauer, Kreativität und Mut – und brauchen davon eine ganze Menge: Im Hilfswerk SEZAM arbeiten Bosnierinnen und Bosnier daran, kriegstraumatisierten Kindern und Jugendlichen den Weg durch eine schwierige Nachkriegszeit zu ebnen und ihnen Türen in eine bessere Zukunft aufzutun.
Spielerisch Brücken bauen
Venira Alihodzic leitet SEZAM
Hohe Arbeitslosigkeit: Industrie in Zenica
Bosnien ist ihr Heimat: Olja Garic und ihre Familie
Erfrischend: Hiphop im Klassenzimmer

Mit ausgestreckten Armen formen einige Kinder eine Brücke. Ein paar andere finden darunter Unterschlupf. Auf Zuruf wird gewechselt. Nun bauen die nächsten eine Brücke, die wiederum anderen Zuflucht bietet. Den Kindern, sie sind zwischen elf und 13 Jahre alt, gefällt das Spiel. Sie jauchzen und lachen. Doch sie wissen, dass viel mehr als nur ein lustiger Zeitvertreib dahinter steckt. “Wir lernen, sensibel mit unseren MitschülerInnen umzugehen”, weiss Berina, die artig aufstreckt und sich unbedingt mitteilen will. “Das heisst, wir nehmen Rücksicht, sind aufmerksam und verzichten auch mal”, doppelt sie für die Besucher nach.

Das Gelernte demonstrieren sie gleich noch an einem riesigen Knoten, den sie Hand an Hand und Körper an Körper bilden. Dann versuchen sie, andere Positionen einzunehmen, um aus dem Knoten einen grossen Kreis zu formen. Was nicht ganz einfach ist. Sie klettern übereinander hinweg und untereinander durch, vorsichtig, um die Kette nicht zu zerreisen. Nach geraumer Zeit und unter viel Gewisper ist der Kreis perfekt. “Das war eine Übung für die Koordination und Kooperation”, strahlt Benjamin voller Stolz.

Leuchtende Kinderaugen

Wenn Venira Alihodzic, Projektleiterin der Nichtregierungsorganisation SEZAM, die leuchtenden Augen der jungen Buben und Mädchen sieht, weiss sie, dass sich der Einsatz lohnt. Allen Schwierigkeiten zum Trotz, und gerade jetzt, wo die Zeichen wieder mal auf Sturm stehen. Ein langjähriger Geldgeber hat soeben seine Unterstützung beendet. “Es gibt neue Krisenherde, die alten geraten darum leider in Vergessenheit”, bedauert Alihodzic. Dennoch resigniert sie nicht. “Wir müssen kurzfristiger arbeiten, vieles neu überdenken, doch die Ziele und unser Enthusiasmus bleiben.” Mit ihren beiden Mitarbeiterinnen ist sie vor kurzem in kleinere Büroräumlichkeiten umgezogen.

SEZAM entstand 1993 aus dem Engagement der amerikanischen Organisation IMC (International Medical Corps), die die Kriegstraumata von Flüchtlingskindern zu dokumentieren suchte. Als sich die Amerikaner nach einem Jahr aus dem Programm zurückzogen, übernahm es die kleine engagierte bosnische Gruppe unter Venira Alihodzic selbst. Die Kinder nur als kriegstraumatisiert zu identifizieren, war ihnen nicht genug. Sie wollten psychologische Hilfe anbieten und suchten darum weltweit neue Wege der Mittelbeschaffung und Partner.

1996 gegründet

Seit der offiziellen Registrierung 1996 arbeiten die Psychologen und Pädagoginnen von SEZAM mit HEKS, dem Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz und der Eidgenössischen Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) zusammen. Inzwischen können jährlich 450 Kinder lang von den Programmen profitieren, die ein Jahr dauern.

125 LehrerInnen pro Jahr konnten sich in Kursen Kenntnisse friedenspädagogischer Erziehungsmethoden wie gewaltfreie Kommunikation aneignen. Armin Rieser vom HEKS in Zürich: “SEZAM versteht, mit international anerkannten Methoden professionell zu arbeiten, kennt den Kontext und kann sich darum mit Herz und Seele für eine friedliche Zukunft der Kinder einsetzen.”

Zuwenig Arbeit

In den sieben Jahren seit Kriegsende hat sich die unmittelbare Sicherheit der Bevölkerung stark verbessert. Existenzängste und Perspektivelosigkeit sind jedoch immer noch weit verbreitet. Die Industriestadt Zenica in Mittelbosnien leidet ganz besonders an der wirtschaftlichen Instabilität.

Das ortsansässige Eisenwerk, mit 25’000 Angestellten einst ein Paradebeispiel des jugoslawischen Sozialismus, wurde vor zwei Jahren privatisiert und von einer kuwaitischen Firma aufgekauft. Nur noch ein Bruchteil der Belegschaft, knapp 2’500 Leute, sind seit der Privatisierung beschäftigt.

Die Erinnerung bleibt

Fast jedes der jungen Kinderleben ist durch die Kriegsereignisse vor zehn Jahren in irgendeiner Art durcheinander gebracht worden. “Die Reaktionen sind unterschiedlich”, erklärt die Schuldirektorin Medina Huseinspamic. “Einige sind in sich gekehrt, andere wiederum reagieren aggressiv. Viele fühlen sich oder werden gar vernachlässigt, weil die Eltern mit der wirtschaftlichen Misere überfordert sind.”

Huseinspamic selbst verdient 250 Euro im Monat, weiss aber nie, ob sie gezahlt wird oder nicht. Doch 125 Euro braucht sie allein für die Miete. Sie hat fünf Kinder. Wie kommt sie zurecht? “Wahrscheinlich bin ich ein Genie”, lacht sie.

Jugoslawisches Erbe: multiethnische Familien

Die Rückkehr von intern Vertriebenen nach Zenica hat zudem eine Veränderung in die althergebrachten Bevölkerungsstrukturen gebracht. Ljljana Garic, Oljas Mutter, die in der muslimisch geprägten Gegend von Zenica geboren wurde, bezeichnet sich als serbisch, ihr Mann als serbisch-kroatisch, Tochter Olja als kroatisch.

Die Familie ist ein typisches Beispiel einer gemischten Ehe, die in Bosnien als Teil Ex-Jugoslawiens vor dem Krieg gang und gebe war. “Heute ist das anders, das Nebeneinander nicht mehr so selbstverständlich”, bedauert die 38-Jährige, die Bosnien als ihre Heimat betrachtet.

Respekt vor sich selbst, Achtung vor anderen

Selbstrespekt und die Achtung vor Anderen zu fördern, Vertrauen in das eigene Umfeld zu finden als Basis für gewaltfreie Konfliktlösung, das ist auch für die jetzt unter schwierigsten Nachkriegsbedingungen heranwachsende Generation von grösster Wichtigkeit. Nicht zuletzt, um Kriminalität inklusive Drogensucht und -handel sowie Abwanderung zu vermeiden.

Das Schulsystem mit seinem harten leistungsorientierten Anspruch kann die emotionalen und sozialen Bedürfnisse der jungen SchülerInnen nicht abdecken. “Reformen sind zwar im Gange”, verspricht Erziehungsminister Sreto Tomasevic, der die SEZAM-Workshops befürwortet, doch Geldmangel macht die besten Pläne zunichte.

Zuwenig Geld für die Schulen

Die Schulgebäude sind in miserablem Zustand, die Kinder besuchen in Schichten, mal vormittags, mal nachmittags, den Unterricht. Die Eltern können kaum die Schulbücher zahlen. Selbst die LehrerInnen wüssten nicht, woher sie die vorgeschlagenen 35 Euro für den SEZAM-Weiterbildungskurs nehmen sollten.

Dennoch sind Venira Alihodzic und ihr kleines Team entschlossen, noch mehr LehrerInnen den Zugang zu SEZAM zu ermöglichen. Die Primarschullehrerin Razema Saric wendet das Programm bereits seit fünf Jahren an und schult auch KollegInnen. “Ich habe dadurch über mich selbst viel gelernt”, sagt sie, “und kann jetzt mehr Zuversicht, Sicherheit und Vertrauen an meine SchülerInnen weitergeben.” Die Erstklässlerin Amila mit den hüpfenden Schmetterlings-Clips im Haar hat soeben ihr erstes SEZAM-Spiel gespielt: Bäumchen wechsle dich. Nun hängt sie vertrauensvoll am roten Kostümrock ihrer Lehrerin und strahlt diese begeistert an.

Das HEKS, das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz, hat 2003 die Arbeit von SEZAM mit 50'000 Franken unterstützt. Die DEZA beteiligte sich mit 90'000 Franken.


HEKS im Internet:
www.heks.ch

Autorin: Angela Allemann (bearbeitet Livenet)
Quelle: HEKS
Bilder: Goran Galic

Datum: 27.12.2003

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