Keine Wunder nach dem Krieg – Eindrücke von einer Reise zu bosnischen Kroaten

Neben dem aus- gebrannten Regierungsgebäude befindet sich bereits das neuerbaute Parlament.
Karte

Auch acht Jahre nach dem Friedensschluss von Dayton ist Bosnien von den Folgen des Krieges gezeichnet. Unzählige Häuser sind immer noch zerstört.

Sehr viele Bewohner, die zwischen 1992 und 1995 vertrieben wurden, sind noch nicht zurückgekehrt. Es gibt katholische Pfarreien, in denen weniger als zehn Prozent der Gläubigen wieder da sind.

Bekanntlich wurde Bosnien-Herzegowina durch den Vertrag von Dayton in zwei "Entitäten" aufgeteilt: in die Republika Srpska und die Bosniakisch-kroatische Föderation. Auf einer journalistischen Reise durch das Land hatten wir vor allem Kontakt mit den katholischen Kroaten. Insofern ist unsere Sicht begrenzt.

Vernichtungswut gegen Kroaten – 90 Prozent Ruinen

Als wir von Kroatien kommend in Bosnien eintreffen, sehen wir bald völlig zerstörte Häuser. Wir bitten den Fahrer, anzuhalten, damit wir fotografieren können. Er meint: "Dazu werdet ihr noch oft Gelegenheit haben."

Tatsächlich, wir fahren durch Gegenden, in denen immer noch rund 90 Prozent der Häuser als Ruinen dastehen. Die restlichen sind wieder aufgebaut oder noch im Bau.

In einem Gebiet von rund 40 Kilometern Ausdehnung gibt es im Norden kaum ein Haus, das unversehrt geblieben ist. In Sarajevo erzählt uns Kardinal Vinko Puljiæ, dass in den 149 Pfarreien seiner Diözese 600 kirchliche Gebäude zerstört wurden.

Besonders schlimm ist die Lage in Nordbosnien. Während in andern Gebieten der Förderation – vor allem in der Herzegowina – katholische Pfarreien vom Krieg wenig betroffen waren und normal funktionieren, sieht es hier vielerorts trostlos aus.

Wenn wir mit nordbosnischen Priestern sprechen, legen sie uns überall ähnliche Statistiken vor. Vor dem Krieg hatte die Pfarrei beispielsweise 4’000 Gläubige. Alle mussten ihre Heimat verlassen.

Heute sind wieder 300 da, die meisten ältere Leute. Wir sehen eine Schule, die von einer ausländischen Hilfsorganisation neu aufgebaut wurde. Sie steht leer, da es im ganzen Dorf keine Kinder gibt.

Hass und Egoismus

Noch schlimmer als die materielle ist die geistige Zerstörung. Dazu Kardinal Puljiæ: "Der Hass legt sich nur langsam. Die Grundfrage ist, wie wir Toleranz und Gleichberechtigung für alle Volksgruppen schaffen können."

Die Pfarrer, die meisten Franziskaner, betonen, sie hätten "bei Null" anfangen müssen. Werte wie Solidarität seien im Krieg zugrunde gegangen. Noch dem Motto "Zuerst die eigene Haut retten" sei der Egoismus gewachsen. Viele litten nach wie vor unter Traumata.

Kein Wirtschaftswunder

Ein Priester erinnert daran, dass in Deutschland zehn Jahre nach dem Krieg das Wirtschaftswunder stattfand. In Bosnien sei auch fast acht Jahre nach Kriegsende nichts davon zu spüren. "Bei uns gibt es keine Wunder. Schon gar nicht wirtschaftliche!"

Überall sehen wir zerstörte Fabriken. Wenige wurden repariert. Neue entstanden kaum. Wir erfahren, dass im ganzen Land ein einziger Betrieb mit mehr als 100 Arbeitsplätzen entstand.

Die ausländische Hilfe hat sich stark auf die Städte konzentriert, besonders auf die Hauptstadt Sarajevo, die während zweieinhalb Jahren heftig umkämpft war.

Wenn sich die Hilfswerke um die ländlichen Gebiete gekümmert haben, stellten sie inzwischen ihre Arbeit zum grössten Teil wieder ein. "Wir müssen im Ausland betteln", beklagt sich ein Franziskaner.

"Die heitern Seiten"...

Fast acht Jahre nach dem Abkommen von Dayton ist es überall fast mit Händen zu greifen: Der Friede brach noch nicht aus. Der Kardinal von Sarajevo hätte allen Grund, sich zu beklagen, wie schwierig sein Bistum ist. Er tut es nicht. Die Priester, die über 90 Prozent ihrer Gläubigen irgendwo in der Ferne wissen, hätten Grund zur Depression. Sie sind zuversichtlich.

Ein Pfarrer singt uns den Refrain des bekannten Monty-Python-Liedes vor: "Always looking on the bright site of life/Immer nur auf die heitern Seiten des Lebens schauen." Denn sonst könnte man nicht in Bosnien leben...

Autor: Walter Ludin

Datum: 06.10.2003
Quelle: Kipa

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