Wohin geht Europa?

Europa

Die Ausarbeitung einer Verfassung für Europa ist ein historisches Ereignis. Der Entwurf ist fertig. Nach dem Willen des derzeitigen EU-Ratspräsidenten, dem italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi, soll die Verfassung bis zum Jahresende unter Dach und Fach sein und in Rom als Vertrag unterzeichnet werden.

Umstritten ist, ob der Gottesbezug in die EU-Verfassung aufgenommen werden soll, um den ethischen Werten der EU eine feste Grundlage zu geben. Ein solcher fehlt im Entwurf und deshalb fordern viele Kirchen und politische Parteien eine Nachbesserung. Andere äussern allerdings Bedenken, diesen Entwurf noch einmal aufzuschnüren, weil dann auch manche Staaten Nachbesserungen herausholen möchten.

Ein gigantisches Werk

Der Entwurf ist ein Mammutwerk. Er wurde in 16 Monaten bei zum Teil hitzigen Debatten fertig gestellt und umfasst 263 Seiten. Der Konventspräsident, Frankreichs Altpräsident Valéry Giscard d’Estaing, rief dem Konvent zum Abschluss zu: “Ich bin stolz auf das, was wir geleistet haben.”

Was bedeutet es, wenn sich die EU eine Verfassung gibt? Entsteht hier ein neuer Staat, eine Art “Vereinigte Staaten von Europa”? Noch nimmt kaum jemand diesen Ausdruck in den Mund. Aber nur ein Staat hat eine gemeinsame Verfassung. Sie stiftet eine gemeinsame nationale Identität. Dazu passt auch, dass darin europäische Symbole festgelegt sind, wie Beethovens “Ode an die Freude” als Europahymne, die blaue Fahne mit den zwölf goldenen Sternen als Europaflagge und der 9. Mai als EU-weiter Feiertag, quasi der europäische Nationalfeiertag. Als gemeinsame Währung der Union wird der Euro festgeschrieben.

Dazu wird es einen europäischen Aussenminister geben und eine Unionsbürgerschaft – diese soll die Staatsbürgerschaft der einzelnen Staaten allerdings nicht ersetzen. Alle wichtigen Bereiche der Politik, auch die Aussen- und Sicherheitspolitik, sollen aufeinander abgestimmt werden.

Politische Verschmelzung birgt Sprengkraft

Bibelleser horchen bei dieser Entwicklung auf: Sollte hier der Staat aus Ton und Eisen entstehen, der im Buch Daniel angekündigt wurde (vergleiche Daniel 2)? Vieles an der EU stimmt mit dem Bild von Ton und Eisen, das vermischt ist, aber nicht aneinander haften kann, überein. Die EU besteht aus gewachsenen Nationalstaaten und Völkern. Jedes Volk hat seine eigene Identität, Sitten und Gebräuche. Jedes wirtschaftet anders, hat andere Vorstellungen von der Gesellschaft, eine eigene Sprache. Das birgt Sprengkraft.

Schon heute ist es schwierig, gemeinsame Entscheidungen zu treffen: Weil jede Entscheidung einstimmig getroffen werden muss, kann ein Land die gesamte EU blockieren. So viele nationale Interessen sind nicht einfach unter einen Hut zu bringen. Wie weit werden die Staaten der EU bereit sein, eigene Interessen zugunsten von Europa zurückzustellen?

Anderseits ist ein solches Staatengebilde auch mächtig. Die westeuropäischen Industrienationen haben eine enorme Wirtschaftskraft und ein immens grosses Potenzial an Mensch und Material. An der EU kommt niemand vorbei. – Somit bleibt abzuwarten, ob sich hier der letzte, antichristliche Superstaat bildet (oder ein Teil von ihm), der dann vom Reich Gottes abgelöst wird.

Viele Fragen bleiben offen: Wie soll dieses neue Staatengebilde EU eigentlich aussehen? Was ist das Ziel? Sind es wirklich die Vereinigten Staaten von Europa, oder soll die EU nur ein festes Staatenbündnis werden, eine Art Mittelding zwischen einem Bündnis und einem Staat? Ein Stichwort ist die Einheit in der Vielfalt. Die einzelnen Kulturen sollen also erhalten bleiben. In dem europäischen Verfassungsentwurf steht: “Die Union achtet die nationale Identität der Mitgliedsstaaten, die in deren grundlegender politischer und verfassungsrechtlicher Struktur einschliesslich der regionalen und kommunalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt.”

Welchen Stellenwert hat die geplante Verfassung? Sie soll die EU handlungsfähig erhalten, wenn bald zehn neue Mitglieder hinzukommen. Das ist sicherlich nötig, aber dazu muss sie ja verbindlich sein. Was genau wird also aus dem deutschen Grundgesetz und den Verfassungen der anderen EU-Staaten? Bekommen sie den Stellenwert der Landesverfassungen der deutschen Länder? Schon jetzt kann kein EU-Staat ein Gesetz erlassen, das europäischem Recht widerspricht. Wie sehr bricht dann die europäische Verfassung die Verfassungen der Nationalstaaten?

Nach welchen Werten wird man sich richten?

Eine wichtige Frage ist auch, auf welchen Werten die EU fusst. Leider muss gesagt werden, dass sie sich immer mehr von ihren christlichen Wurzeln entfernt. Im deutschen Grundgesetz steht noch in der Präambel: “Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen”. In der Präambel zur geplanten europäischen Verfassung heisst es dagegen: “In dem Bewusstsein, dass der Kontinent Europa ein Träger der Zivilisation ist und dass seine Bewohner, die ihn seit Urzeiten in immer neuen Schüben besiedelt haben, im Laufe der Jahrhunderte die Werte entwickelt haben, die den Humanismus begründen: Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltung der Vernunft, schöpfend aus den kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas, deren Werte in seinem Erbe weiter lebendig sind und die zentrale Stellung des Menschen und die Unverletzlichkeit und Unveräusserlichkeit seiner Rechte sowie den Vorrang des Rechts in der Gesellschaft verankert haben.”

Eindeutig geht hier die Blickrichtung weg von Gott zu dem Menschen. Zwar wird auch kurz das religiöse Erbe erwähnt, aber es ist nur noch ein Punkt unter vielen, der zur Kultur beiträgt – mehr nicht. Die Verantwortung vor Gott wird nicht mehr erkannt. Die EU will neutral sein, ein humanistischer Staat, der seinen Bürgern völlige Freiheit in Bezug auf Weltanschauung, Religion und Lebensgestaltung lässt.

Positive Aspekte

Positiv ist anzumerken, dass in einer “Charta der Grundrechte der Union” auch biblische Werte wie die unverletzbare Würde des Menschen, sein Recht auf Leben, menschenwürdige Behandlung, Verbot von Sklaverei und Menschenhandel u. a. festgeschrieben sind. Gut ist, dass besonders eugenische Massnahmen, die zu einer Selektion führen, sowie – leider nur reproduktives – Klonen verboten sind. Gut ist auch, dass die Meinungs-, Religions- und Gewissensfreiheit festgeschrieben sind, wozu auch der Wechsel der Religion oder Weltanschauung und die freie Religionsausübung öffentlich oder privat gehören.

Schwieriger wird es bei dem Artikel, der sich gegen Diskriminierung richtet. Hier wird nicht nur die Diskriminierung wegen Geschlecht, Alter, ethnischer Herkunft, Rasse, Weltanschauung, Religion oder einer Behinderung verboten, sondern auch die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung. Dies bezieht sich eindeutig auf Homosexualität. In vielen Ländern ist sie nicht nur erlaubt, dort können homosexuelle Paare jetzt auch eine Art Ehe eingehen. Was in der Gesellschaft längst ausgeübt wird, wird nun gesetzlich festgeschrieben. Damit stiftet nicht mehr Gott die Werte, auf die sich die Gesellschaft stützt, sondern die Gesellschaft selbst bestimmt, was für Werte in ihr gelten sollen – getreu dem Motto: Wir können den Menschen nicht vorschreiben, wie sie leben sollen.

Die Auswirkungen dürften verheerend sein. Damit wird Homosexualität gerechtfertigt und unter Schutz gestellt. Wie soll nun ein Homosexueller dazu aufgerufen werden, mit diesem Lebensstil zu brechen, weil es Sünde vor Gott ist? Und wie sollen Mütter und Väter ihren Kindern eine eindeutige geschlechtliche Identität mitgeben, wenn es diese in der Gesellschaft immer weniger gibt? Wie viele Jungen und Mädchen werden damit im Namen der Toleranz und des Verbots der Diskriminierung in ihrer geschlechtlichen Identitätsfindung verwirrt?

Was genau ist Diskriminierung wegen der sexuellen Ausrichtung? Was bedeutet dieses Gesetz für den Christen in einem EU-Staat? Zwar soll die Verfassung nur das Unionsrecht regeln, der Nationalstaat mit seinen Gesetzen bliebe erhalten. Auch steht in der Charta, dass keiner der erwähnten Artikel so ausgelegt werden darf, dass er die festgelegten Freiheiten abschafft oder mehr als vorgesehen einschränkt. Aber hier sind doch Konflikte vorprogrammiert! Was ist, wenn ein Christ einem Homosexuellenpärchen (oder einem unverheiratet zusammenlebenden Paar) kein Hotelzimmer oder keine Wohnung vermieten will, weil ihr Lebensstil der Bibel widerspricht? Ist dies Meinungs- und Gewissensfreiheit und freie Religionsausübung oder ist dies Diskriminierung wegen der Weltanschauung oder der sexuellen Ausrichtung?

Wie wird sich die Praxis auswirken?

Was ist, wenn eine Kirchengemeinde einen praktizierenden Homosexuellen aus Glaubensgründen als Pastor ablehnt oder entlässt – gilt dies als Diskriminierung oder freie Religionsausübung? Was ist mit Therapieeinrichtungen für Homosexuelle, die ihnen ein heterosexuelles Leben ermöglichen sollen? Ist das Diskriminierung wegen einer sexuellen Ausrichtung? Auch bei den anderen Punkten müsste das Gesetz genauer formuliert sein. Wo fängt z. B. Diskriminierung wegen des Geschlechts an? Schon da, wo eine Kirche aus Glaubensgründen eine Frau als Pastorin ablehnt, aber die Gleichwertigkeit von Mann und Frau bejaht?

Im Verfassungsentwurf steht ausdrücklich, dass durch europäische Gesetze Massnahmen festgelegt werden können, um solche Diskriminierungen zu verhindern. Kann somit Druck auf Mitgliedsstaaten ausgeübt werden, die noch kein Antidiskriminierungsgesetz haben – wie z. B. Deutschland – oder die noch kein Gesetz für homosexuelle Partnerschaften haben – wie z. B. Italien? Könnte dann im Extremfall auch eine Kirche gezwungen werden, homosexuelle Pastoren oder auch Frauen im Pastorenamt zu akzeptieren?

Als Fazit bleibt: Die europäische Verfassung schreibt einige gute Werte fest, aber sie führt Europa weiter weg von seinem christlichen Erbe und damit weiter weg von Gott. Die europäische Gesellschaft ist eine säkularisierte Gesellschaft. Die Verfassung setzt damit einen Punkt hinter eine lange Entwicklung, in deren Verlauf Gott immer mehr an den Rand gedrückt wurde.

Es bleibt abzuwarten, wie weit und in welche Richtung diese Verfassung Europa formen wird. Für Christen ist besonders wichtig, in welche Richtung das Verbot der Diskriminierung ausgelegt wird. Das entscheidet auch darüber, ob es in Europa wirklich Religions- und Gewissensfreiheit geben wird.

Man wird wachsam beobachten müssen, wie sich diese Staatengemeinschaft oder dieser Staat entwickelt. Egal, in welche Richtung er geht: Gott hat auch mit Europa einen Plan, der sich in allem erfüllen wird.

Datum: 10.09.2003

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