Nationalisten gegen Christen

Putschistenprozess in der Türkei

Statt Christen sitzen in der Türkei endlich ihre Feinde auf der Anklagebank. – Hintergründe zum hochbrisanten Prozess gegen nationalistische Offiziere vom Orientalisten Heinz Gstrein.
Silivri

In Silivri am Marmarameer hat zum Jahresende der für die Türkei wohl entscheidende Schritt zur Entflechtung von Politik und Militär begonnen: 196 meist ranghohe Offiziere, unter ihnen drei bis zuletzt aktive Generäle und zwei Dutzend schon früher in den Ruhestand versetzte Armee-, Flotten-, Luftwaffen- und Generalstabschefs, stehen in der ehemaligen Bischofs- und heutigen Gefängnisstadt vor zivilen Richtern.

Für Prozesse gegen Christen bekannt

Bisher waren die Zellen und Gerichtssäle von Silivri im europäischen Teil der Türkei für Prozesse gegen Muslime bekannt, die Christen geworden waren und sich der «Verbrechen» des Verteilens von Bibeln, illegaler Gebetsversammlungen oder unerlaubter Einrichtung von Kultstätten schuldig gemacht hatten. Nun wird dort aber gegen Militärs mit klingenden Namen wie den General Cetin Dogan verhandelt.

Ziel: Das Land destabilisieren

Die Anklageschrift vermerkt, dass sie Terrorakte und militärische Zwischenfälle organisierten, um die Türkei zu destabilisieren und den Boden für einen Militärputsch gegen die islam-demokratische Regierung Erdogan zu bereiten. Die angeblich areligiösen Nationaltürken sind schlimmere Feinde alles Christen als massvollen Muslime: Für sie ist nur der ein richtiger Türke, der türkisch spricht, türkisch denkt und vor allem ein Muslim ist.

Auch Justiz unterwandert

Zum ersten Mal wurden diese Vorwürfe schon letzten Februar erhoben. Sie haben sich durch die weiteren Untersuchungen auf viel mehr detaillierte Anklagepunkte und einen grösseren Kreis von Verdächtigen ausgedehnt. Als letzte wurden Ende November auch drei Generäle der türkischen Gendarmerie suspendiert. Sie stehen jetzt ebenfalls vor den Richtern.

Sogar diese mussten im letzten Moment vor Prozessbeginn ausgewechselt werden. Es hatte sich nämlich herausgestellt, dass sie mit einer anderen, zivilen Verschwörergruppe unter einer Decke steckten: den vorwiegend aus Juristen, Uni-Professoren und ultranationalen Intellektuellen bestehenden, aber ebenfalls von einem General geleiteten Umstürzlern vom Geheimbund «Ergenekon», einem Berg der alttürkischen Mythologie.

Diese Art «Kyffhäuser-Bund» wollte die führenden christlichen Persönlichkeiten des Landes mit Patriarch Bartholomaos I. an der Spitze umbringen. Im Fall des Gemetzels von Malatya am deutschen Missionar Tilmann Geske und seinen türkischen Mitarbeitern hatten sie bereits 2007 blutig zugeschlagen.

Während Jahrzehnten unantastbar ...

So ein Durchgreifen von Regierung und Justiz gegen Verschwörer im Offziersrock und noch dazu mit roten Generalsstreifen an den Hosen hat es in der modernen Türkei noch nie gegeben. Seit die siegreichen Heerführer Kemal Atatürk und Ismet Inönü 1922 die alte osmanische Türkei vor dem völligen Untergang gerettet und in einen Militärstaat mit äusserlich demokratischem und gesucht europäischem Anstrich verwandelt hatten, sassen in Ankara immer die Offiziere am Drücker.

... und eigenmächtig

Die Politiker waren mehr oder weniger Marionetten, die von den Streitkräften nach Belieben von der öffentlichen Bühne geholt wurden – so geschehen 1960, 1971, 1980 und 1997. Doch noch nie mussten sich türkische Militärs wegen dieser von ihnen angemassten Rolle als «Wächter der Nation» vor Gericht verantworten. Mit dem Prozessbeginn scheint ein Tabu gebrochen. Schlagartig tauchen in den Medien nun neue Vorwürfe gegen die bislang unantastbaren Militärs auf. So wollte der Generalstab vergangenen Mai mit massivem Truppeneinsatz im Nordirak einmarschieren, ohne die Zustimmung der Regierung erhalten zu haben, heisst es im neuesten «Zaman» (Die Zeit).

Wie immer der Prozess von Silivri auch ausgehen mag – die kemalistische Türkei wird danach nicht mehr die alte sein, sondern hoffentlich eine bessere und vor allem demokratischere und christenfreundliche!

Datum: 30.12.2010
Autor: Heinz Gstrein
Quelle: Livenet

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