Ayodhya ängstigt Indien: Macht vor Recht?

Die Zerstörung durch fanatische Hindus
Die Ruinen der Babri Masjid Moschee in Ayodhya
Unruhen in Ayodhya

Die Mühlen der Justiz mahlen langsam – besonders in Indien, Und noch länger dauert ein Verfahren, das quer in der politischen Landschaft steht. Über zehn Jahre sind seit der Zerstörung einer historischen Moschee durch fanatische Hindus in Ayodhya und der darauf folgenden landesweiten Gewaltorgie im Dezember 1992 vergangen. Erst jetzt stehen die Angeklagten im nordindischen Gliedstaat Uttar Pradesh vor Gericht.

Inzwischen wurde Ayodhya zum Symbol für die gewaltbereiten hinduistischen Nationalisten. Sie scheren sich um den Rechtsstaat und seine säkulare Grundlage einen Deut und wollen um jeden Preis auf eben diesem Flecken einen Tempel für ihren Gott Ram errichten.

Unter den Angeklagten sind auch Minister der BJP-Unionsregierung in Delhi. Diese geben sich keineswegs kleinlaut und reuig, sondern treten als Kämpfer für die Hindu-Nation auf, in der Hoffnung, als Märtyrer der edlen Sache bei den nächsten Wahlen umso mehr Stimmen zu erhalten.

Der schwarze 6. Dezember 1992

Der Korrespondent der NZZ blendet in seinem Bericht zurück ins Jahr 1992: „Am 6. Dezember drängen in Ayodhya aus den engen Gassen dichte Menschentrauben auf den von Bulldozern leer geräumten Perimeter der Moschee. Ziegelsteine fliegen auf den Polizeikordon, der das umstrittene Gebetshaus bewacht. Als die ersten jungen Männer den Drahtzaun übersteigen, ziehen die Polizisten plötzlich ab und überlassen das Feld dem Mob…“

„Fünf Stunden später ist die Kuppel der 500-jährigen Babar-Moschee nur noch ein Steinhaufen. Während des ganzen Tages beobachten prominente Politiker der regierenden Hindu-Partei BJP und VHP-Grössen (VHP ist die Abkürzung für Hindu-Weltrat; Red.) für von einem Hochsitz in etwa hundert Meter Entfernung aus das Schauspiel. Sie intervenieren auch nicht, als die junge Sadhvi Rithambara vom gleichen Podium aus die Menge anfeuert, mit ihren Vorschlaghämmern weiter auf die Kuppel einzuschlagen.“

Unendliche Geschichte

Ayodhya spaltet Indien und ängstigt seine friedliebende Bevölkerungsmehrheit. Sowohl Politiker und Medien wie die radikalen (mit faschistischen Methoden operierenden) Hindu-Massenorganisationen mit ihren paramilitärischen Strassentrupps halten die Fehde am Brodeln. Dabei hätte das Riesenland wahrlich andere Probleme zu lösen.

Die sieben Angeklagten sollen den Sturm auf die Moschee geplant und herbeigeredet haben; sie wären damit indirekt auch für die folgende Gewalt-Orgie verantwortlich, in deren Verlauf landesweit über 3000 Personen ums Leben kamen.

Er trieb die Fanatiker an – jetzt ist er Vizepremier

Bereits freigesprochen wurde der zweitmächtigste Mann Indiens, der BJP-Politiker Lal Krishna Advani, der eigentliche Gründer der Ram-Tempel-Bewegung. Der Innenminister und Vizeregierungschef gilt als wahrscheinlicher Nachfolger des greisen Premierministers Vajpayee. Laut einigen Zeugen hatte Advani die Fanatiker aufzuhalten versucht, andere erklärten, Advani habe dem Treiben von der Tribüne aus fünf Stunden lang gleichmütig zugesehen.

Vor Gericht steht auch der bisherige Kultur- und Erziehungsminister Murli Manohar Joshi, der seit der Machtübernahme der BJP im Jahr 1998 altindische Inhalte und Stoffe in die Lehrpläne eingeführt hat. Joshi war in Ayodhya dabei. Er hat nach der Anklageerhebung seinen Rücktritt erklärt, doch Vajpayee hat ihn noch nicht angenommen. Laut der NZZ kann sich Joshi so publikumswirksam (in vier Gliedstaaten stehen dieses Jahr noch Wahlen an) als „Märtyrer für die Sache des Tempelbaus“ profilieren, zu Advanis Nachteil.

Radikale Hindus mit politischer Rückendeckung

Die BJP als politische Partei und der Hindu-Weltrat VHP als Kultur-Organisation gehören zum Hindu-Verbund unter Leitung des Nationalen Freiwilligencorps RSS (Rashtriya Swayamsevak Sangh). Der Führer des RSS, dessen früherer Chef Ende der 30-er Jahre Hitlers Rassenpolitik als vorbildlich hinstellte, hat Christen und Muslime aufgefordert, die Vorherrschaft der Hindu-Kultur anzuerkennen und sich ins ‚Hindu Rashtra’ (Hindu-Heimatland) einzuordnen; darin zeigt sich ein mit dem säkularen Indien Gandhis und Nehrus unvereinbare Staatsverständnis.

Politisch spannen VHP und BJP laut der NZZ derzeit wieder enger zusammen: Mit politischer Rückendeckung durch die Machthaber in Delhi (Advani ist oberster Chef der Sicherheitskräfte) lanciert der VHP Anfang Oktober „eine weitere Kampagne zur ‚endgültigen’ Befreiung des Tempelgeländes, so dass der Bau, für den die Säulen und Kapitelle schon längst behauen und ziseliert sind, endlich begonnen werden kann“.

Unklarer Befund der Archäologen

Auf richterliche Weisung haben Archäologen dieses Jahr auf dem umstrittenen Gelände in Ayodhya Grabungen vorgenommen. Sie vermuten nun, dass einst ein Shiva-Tempel da stand – kein Ram-Tempel, wie die radikalen Hindus behaupten. Diese empfinden die Tatsache, dass das Gelände heute muslimischen Organisationen gehört, als einen späten Ausdruck der jahrhundertelangen Fremdherrschaft der Mogulkaiser über Indien.

Die historische Demütigung, Stachel im Fleisch des Hindu-Chauvinismus, wollen sie durch einen Prachtsbau vergessen machen. Laut den RSS-Führern wären die Hindus (die allermeisten wollen mit dem RSS nichts zu tun haben) dann bereit, auf die Rückgabe von 30’000 Tempeln zu verzichten, welche die islamischen Invasoren vor Jahrhunderten zerstört und enteignet hätten…

Datum: 29.09.2003
Quelle: Livenet.ch

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