USA: Werte und Prioritäten haben sich verschoben

Der amerikanischer Theologe Richard D. N. Dickinson.

Es gab eine Zeit, da meinte Richard D. N. Dickinson fast, an Gespenster zu glauben: Ob der US-Amerikaner eine bestimmte regierungskritische Zeitung in den Buchläden nicht bekam oder sein Fernsehgerät bei arabischen Sendungen über den Irak-Krieg plötzlich gestört war – „in mir verstärkte sich ein beinahe paranoider Verdacht“, erinnert sich Dickinson. Das ganze Land, die gesamten Vereinigten Staaten von Amerika: imprägniert gegen jede Kritik, ruhig gestellt durch umfassende Zensur?

Diese Gefühlslage sei natürlich überzogen gewesen, sagt Dickinson heute. Aber sie zeige, wie sehr ihn die Veränderungen erschüttert hätten, die die USA seit den Terroranschlägen des 11. September 2001 kennzeichnen.

Ohnmachtsgefühle

Richard D. N. Dickinson ist Theologieprofessor, hat bis zum Ruhestand eine theologische Ausbildungsstätte in Indiana geleitet. Er gehört zur liberalen Bildungsschicht der USA. Und er ist Patriot. „Ich liebe mein Land. Es macht mich krank zu sehen, auf was für eine Zukunft es zusteuert.“ Das Schlimmste dabei, sagt Dickinson: das Gefühl, nicht eingreifen zu können.

Dickinson, der bei einer Partnerschaftsbegegnung zwischen amerikanischen Kirchen und der Evangelischen Kirche von Westfalen sprach, sieht in der Folge des 11. September grundlegende Bürgerrechte und Verfassungsgrundsätze in den USA bedroht. „Menschen können ohne Angabe von Gründen inhaftiert werden. Es besteht kein Anrecht, Familie oder Anwalt informieren zu lassen“, berichtet Dickinson.

Zudem seien Informations- und Meinungsfreiheit eingeschränkt: „Es gibt zwar Zeitungen, die kritisch berichten“, so Dickinson. „Aber die öffentliche Meinung wird durch die drei grossen Fernsehsender und die vielen Rundfunkstationen bestimmt.“ Und die würden grundsätzlich auf jeden regierungskritischen Ton verzichten – nicht zuletzt auf Druck der Werbekunden.

Werte und Prioritäten hätten sich verschoben: Für militärisches Aufrüsten, Kriege und Überwachungstechniken würde die gegenwärtige US-Regierung Milliarden ausgeben; soziale Aufgaben rutschten immer weiter nach hinten.

Auch die Veränderungen auf internationaler Ebene prangert Dickinson an: Dass sich die USA das Recht auf einen militärischen Erstschlag herausnehmen, dass sie ihre Wirtschaftslehre von den freien Märkten anderen Staaten aufpfropften, dass sie die Völkergemeinschaft und die Vereinten Nationen zur Seite schieben, das alles zeuge von „einer unglaublichen Arroganz der Macht“.

Die Veränderung seines Landes in der Folge des 11. September steht für Richard D. N. Dickinson in klarem Widerspruch zur amerikanischen Verfassung. Besonders ärgerlich: „Nur ungefähr die Hälfte aller US-Amerikaner unterstützt eigentlich die Ziele von George W. Bush“, berichtet Dickinson. In der Folge der Attentate sei der Präsident zwar auf einer Woge der Popularität geritten; die sei aber längst abgeflaut. „Doch inzwischen“, so Dickinson, „hat Bush durch die Sicherheitsgesetze die Weichen für eine andere Zukunft des Landes längst gestellt.“ Nicht zuletzt dadurch, dass demnächst etliche Richter an den wichtigen Obersten Gerichtshöfen neu ernannt werden – auf Lebenszeit. Und zwar von George W. Bush.

Eine besondere Rolle spielt die kleine Schar ultra-konservativer Christen in den USA. „Nur zehn bis 15 Millionen sind es“, schätzt Dickinson. Aber die gäben bei der üblichen Aufteilung des Landes in zwei etwa gleichstarke politische Lager bei Wahlen den Ausschlag. Bush bemühe sich sehr um sie.

„Diese Menschen warten auf das unmittelbar bevorstehende Weltende“, erklärt Dickinson. „Und sie sind davon überzeugt, dass der Staat Israel bis zum Ende existieren muss, damit der Messias wiederkommen kann.“ Egal, was für Folgen das für die Weltpolitik bringe – „solange diese Leute Einfluss auf die amerikanische Politik haben, werden die USA Israel bedingungslos unterstützen“, ist Dickinson überzeugt.
Autor: Gerd-Matthias Hoeffchen
Quelle: Unsere Kirche

Datum: 18.10.2003

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