Abschied von einem Weltbild

«Das Ende des weissen Mannes»

So lautet der provokante Titel des Frontartikels der Wochenzeitung «Die Zeit», Ausgabe vom 15. November 2012. Über weite Strecken wird die Situation in den USA nach den Präsidentschaftswahlen beleuchtet. So werden beispielsweise ab 2042 die White Anglo-Saxon Protestants nicht mehr die Mehrheit der US-Bevölkerung stellen.
Dieter Bösser

«Das Weltbild des weissen Mannes ist labil, jede Sekunde kann es zusammenstürzen, er ist nicht überzeugt und überzeugt darum nicht. Machtverlust ist eine Sache des Kopfes», so die Bewertung der beiden Autoren Özlem Topcu und Bernd Ulrich in «Die Zeit».

Bezieht sich diese Aussage nur auf den weissen Mann jenseits des Atlantiks, oder kann man sie auch auf (West)Europa übertragen? Tatsache ist, dass die Dominanz des Westens in den nächsten Jahrzehnten zu Ende gehen wird. Die USA sind je länger desto weniger das Zentrum der Welt. Indien, Brasilien und China, so genannte Schwellenländer, gewinnen zunehmend an Bedeutung in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht. Seit geraumer Zeit investieren Chinesen in der Schweiz, beispielsweise in die Hotellerie von Engelberg und Melchsee-Frutt oder aber in das Unternehmen Swissmetall.

Was bedeutet das für das Selbstverständnis weisser Mitteleuropäer in den kommenden Jahren? Ist Westeuropa auf «dem absteigenden Ast»?

Vergleichbare Situation bei den Kirchen

Im Blick auf die Verteilung der Christen über die Kontinente dieser Erde lässt sich eine analoge Verschiebung feststellen. Über 80% aller Christen lebten 1910 in Europa (66%) und Nordamerika (über 14%), 2010 waren es weniger als 40% (Europa ca. 25%). 1910 lebten 2% aller Christen in Afrika, 2010 waren es ca. 22%.

Die massive Verschiebung der Gewichte in der Christenheit liesse sich problemlos mit weiteren Zahlen illustrieren. Mittlerweile findet ähnlich wie in der Wirtschaft eine entgegengesetzte Entwicklung statt: Menschen kommen aus verschiedenen Ländern in die Schweiz und werden in lebendigen Migrantengemeinden heimisch. Zwar nicht organisiert, aber trotzdem spricht man von einer «reverse mission», Mission in umgekehrter Richtung.

Es bleibt die Frage, was das für Christen und besonders für Christen in Führungsverantwortung hierzulande bedeutet. Was ist ihr Auftrag, welche Spielräume und Gestaltungsmöglichkeiten haben sie angesichts der skizzierten Veränderungen? 

Für Verantwortliche in Kirchen und Gemeinden stellt sich die spannende Frage, welche Ideen bestehen, um der schwindende Relevanz der Kirchen im Inland zu begegnen. Letztlich ist jeder einzelne Christ herausgefordert, seinen Glauben nicht in einem Modus der Distanziertheit zu leben (vgl. die Untersuchungen des Nationalen Forschungsprogramms NFP 58), sondern authentisch und überzeugend. Das geht nur, wenn man selbst wirklich überzeugt ist.

Nur zuschauen – oder mitgestalten?

Es ist schön, wenn man beobachten kann, wie sich das Evangelium in anderen Regionen der Erde ausbreitet. Dass die europäische Christenheit global an Bedeutung einbüsst, mag man bedauern. Vielleicht ist auch nur der Stolz eines latenten oder ausgeprägten Überlegenheitsgefühls verletzt. Trotzdem bleibt sie Frage nach der Bedeutung des christlichen Glaubens in unserer Gesellschaft: Wie können Christen die künftige Entwicklung auf verschiedenen Ebenen kompetent mitgestalten und sich im besten Sinne des Wortes in der Gesellschaft neu Respekt verschaffen?

Ich fordere Sie auf, sich über diese und ähnlich spannende Fragen intensiv Gedanken zu machen und diese mit Anderen zu diskutieren: In was für einer Welt sollen unsere Enkel einmal aufwachsen?

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Datum: 04.01.2013
Autor: Dieter Bösser
Quelle: Livenet

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