Sind Gefängnisinsassen böse?

«Ich unterscheide zwischen Tat und Täter»

Bruno Graber hat als Leiter des Zentralgefängnisses der Justizvollzugsanstalt Lenzburg jeden Tag mit straffällig gewordenen Menschen zu tun. Wie geht er mit «bösen» Menschen um? Gibt es positive Lebensveränderungen auch im Gefängnis? Kann man als Gefängnisleiter und Christ die Atmosphäre in einem Gefängnis prägen?
Bruno Graber

Magazin INSIST: Bruno Graber, Sie haben jeden Tag mit «bösen» Menschen zu tun. Wie belastend ist diese Arbeit für Sie?
Bruno Graber: Sind es denn überhaupt böse Menschen? Ich erlebe sie nicht so. Sie haben vielleicht eine böse Tat begangen. Der Umgang mit diesen Leuten belastet mich nur selten, weil sie für mich in erster Linie Menschen sind. Es sind eher Situationen wie Drohungen, aggressives und renitentes Verhalten, Suizidversuche im Gefängnisalltag, die mich belasten.

Können Sie den Menschen vom Täter unterscheiden?
Ja, ich unterscheide zwischen Tat und Täter, auch wenn mir das manchmal bei Veröffentlichungen von einigen Lesern angekreidet wird. Ich spreche zum Beispiel nicht von einem «Mörder», sondern von einem Menschen, der einen Mord begangen hat. Ich finde es falsch, einen Menschen nur auf eine Sequenz in seinem Leben zu reduzieren. Wir würden es auch nicht als gerecht empfinden, einen Menschen immer als «Lügner» zu bezeichnen, weil er einmal gelogen hat. Es würde ihn dazu drängen, sich immer wieder als «Lügner» zu sehen und zu betätigen. Es ist mir sehr wichtig, diesen Unterschied zu machen und diesen Menschen damit eine positive Perspektive zu geben. Auch ein «Mörder» kann viele gute Seiten in seiner Persönlichkeit haben. Ich – aber auch die Mitarbeitenden, die mit mir am gleichen Strick ziehen – werde mit dieser Unterscheidung oft im ersten Moment nicht verstanden.

Wie beschreiben Sie das Phänomen «böse» aus psychologischer und theologischer Sicht?
Ich empfinde das als schwierig. Als böse empfinde ich, wenn ein Mensch einem andern ganz bewusst Schaden zufügt und dabei Freude empfindet. Es gibt Menschen, die hart verurteilt wurden, weil sie Befriedigung dabei empfinden, andere zu quälen.

Werden Sie auf diese Frage auch als Christ angesprochen?
Am häufigsten werde ich dazu von Mitarbeitenden und Menschen aus meinem engsten Umfeld angesprochen. Ganz besonders dann, wenn jemand aus christlichem Hintergrund straffällig wird und ins Gefängnis kommt. Dann werde ich darauf angesprochen, dass dies eigentlich nicht passieren dürfte. Ich sage ihnen, dass ich auch als Christ nicht davor gefeit bin, falsch zu handeln, wenn ich in einer konkreten Situation unter Druck gerate. Wenn ein Mensch zum Beispiel lange genug ungerecht behandelt oder gequält worden ist, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er auch als Christ falsch reagiert.

Was macht hier den Unterschied zwischen einem Christen und Nichtchristen aus?
Oft wollen auch Christen unbedingt recht behalten. Recht haben ist das eine, aber ein Christ sollte nach meinem Verständnis darauf verzichten können, auf sein Recht zu pochen und es unter allen Umständen durchzusetzen. Das würde Konflikte in vielen Situationen, sogar in Gemeinden, entschärfen. Man kann Recht haben und dennoch nachgeben. Das gelingt mir oft, und ich mache damit gute Erfahrungen.

Viele Täter distanzieren sich von ihrer Tat. Andere nicht. Wie gehen Sie mit diesen Menschen um?
Es gibt verschiedene Reaktionen auf eine Tat. Man kann sie rechtfertigen, oder man kann sie nicht wahr haben wollen. Das hat mit Selbstschutz zu tun. Man gibt dann anderen oder den Umständen die Schuld. Das Schuldempfinden ist auch sehr kulturell bedingt. Das erleben wir mit unseren Insassen aus über 32 Nationen mit ganz unterschiedlichen Kulturen immer wieder. Ich denke an die Romas, die zum Beispiel das Stehlen nicht als schlechte Sache empfinden. Bereits die Kinder werden dafür geschult, sich bei Leuten zu bedienen, die ohnehin mehr als genug haben – und werden bei Erfolg gelobt. Wir haben hier junge Frauen, teils minderjährige, die extra in die Schweiz gebracht wurden, um mit Trickdiebstählen oder Betteln ihre Lage zu verbessern. Wenn sie inhaftiert werden, haben sie nicht das Gefühl, etwas Schlechtes getan zu haben, denn sie haben sich nur am Überfluss unseres Landes bedient. Man kann verstehen, dass ihnen die Einsicht fehlt, auch wenn man die Handlung nicht gutheisst. Ich habe aber kein Verständnis, wenn Leute sich nach links und rechts rücksichtslos verhalten, auch wenn es ihnen im Leben eigentlich gut geht.

Können Sie Leute auch begleiten oder therapieren, die straffällig geworden sind?
Als ich als Leiter im Sicherheitstrakt arbeitete, hatte ich noch mehr persönliche Gespräche mit Gefangenen als heute und versuchte, sie auf einen andern Weg zu bringen und ihnen den Weg in ein konfliktfreies Leben zu bahnen. Als Leiter des Zentralgefängnisses ist mir dies kaum mehr möglich, weil ich nur noch wenige direkte Kontakte mit ihnen habe, ausser wenn es spezielle Probleme gibt. Als Leiter sehe ich mich als Multiplikator. Die Aus- und Weiterbildung und die Begleitung des Personals stehen bei mir im Vordergrund. Wir haben Psychologen, Psychiater, geschultes Vollzugspersonal und Seelsorger, die mit den Gefangenen reden und arbeiten. Wenn Gefangene direkt mit mir reden wollen, können sie sich bei mir melden. Das kommt auch immer wieder vor. Ich bin auch da, wenn eine Situation eskaliert und die Mitarbeiter nicht mehr weiter wissen. Ich verfüge dank meiner Erfahrungen und Stellung über mehr Möglichkeiten zur Bewältigung der Situation mit dem Verursacher als dies die Mitarbeitenden haben.

Resozialisierung lautet das Schlagwort im Strafvollzug. Wann ist eine Resozialisierung erfolgreich?
Ich mag den Begriff «Resozialisierung» nicht. Denn er besagt, dass ein Betroffener schon mal sozialisiert gewesen ist. Gerade wenn wir von den Romas ausgehen oder von Menschen, die in Nordafrika auf der Gasse gelebt haben, merken wir: Diese Menschen waren gar nie sozialisiert. Was ist Sozialisation, und was heisst das in der jeweiligen Kultur? Was wir hier gut bürgerlich als Sozialisation verstehen, ist für einen Nordafrikaner, der in seine Kultur zurückgeht, etwas ganz Anderes. Er muss auf seine eigene Kultur vorbereitet werden. Die Strafanstalt führt die Leute zum Beispiel in eine Berufslehre oder in eine geregelte Arbeitszeit und Tagesstruktur. Es kann den Straffälligen helfen, später in ihrem Land eine Berufsarbeit zu finden und nicht mehr straffällig zu werden. Es bringt ihnen recht viel, wenn sie nur schon einen geregelten Tagesablauf erleben. Oder wenn sie sehen, dass man mit einer geregelten Arbeit – statt mit dem Drogenhandel – den Lebensunterhalt bestreiten kann.

Wie gehen Sie mit Menschen um, die sich gegen jede Veränderung sträuben?
Das gibt es relativ oft. Besonders wenn diese Menschen 30 Jahre oder älter sind. Für Junge ist die Chance zur Veränderung grösser. Wenn sich Leute aber einmal entschieden haben, auf ein bürgerliches Leben mit acht Stunden Arbeit pro Tag zu verzichten und merken, dass es auch andere Möglichkeiten wie den Drogenhandel gibt, schwindet die Lust zur Integration. Viele hätten das Potenzial für ein geregeltes Leben, sie wollen das aber nicht mehr. Wir können sie nicht dazu nötigen, machen ihnen aber ein Angebot. Dazu haben wir geschultes Vollzugspersonal, Sozialarbeiter, Psychologen, Psychiater. Es gibt auch Therapieangebote in anderen Einrichtungen, die angeboten werden.

Erleben sie auch dramatische Veränderungen von Menschen im Strafvollzug hin zum Guten?
Zum Glück erlebe ich das auch. Zum Beispiel Gefangene, die sehr aggressiv waren und andere bedroht oder mit Suizid gedroht haben. Wir haben zurzeit einen Gefangenen, der sich nach einem dreiviertel Jahr sehr verändert hat und jetzt gut mitarbeitet. Wir staunen alle, wenn wir sehen, was möglich ist. Er hat erfahren, dass er bei uns Verständnis für seine Situation findet und ist darauf eingegangen.

Kann das Gefängnis dazu ein geeignetes Klima schaffen?
Das fängt mit dem Vorbild des Personals an. Schon in meiner Zeit im Hochsicherheitstrakt konnte ich dieses Klima prägen. Auch beim Aufbau des Zentralgefängnisses ist das recht gut gelungen. Gerade auch die gegenseitige Wertschätzung und Empathie innerhalb des Teams ist entscheidend. Auch dann, wenn wir das Personal mit Dingen konfrontieren, die nicht gut sind. Wir können von den Gefangenen nur verlangen, was wir auch selbst im Leitungsteam leben. Ich mache dazu Schulungen, und wir haben einen Verhaltenskodex erstellt. Er ist auf einer Karte zusammengefasst, die jeder Mitarbeitende auf sich trägt (siehe unten). Dabei wird der Umgang untereinander, mit den Vorgesetzten und mit den Gefangenen angesprochen. Wir erinnern uns in konkreten Situationen daran, dass wir diese Regeln miteinander festgelegt haben. Der Grundsatz gilt, dass wir andere so behandeln, wie wir selbst behandelt werden möchten. Wenn sich alle daran halten, können wir viel bewegen. So steht zum Beispiel das Vertrauen über dem militärischen Befehlston. Wir überprüfen immer wieder, ob wir uns daran gehalten haben. Wichtig ist auch eine Fehlerkultur. Man darf Fehler machen und darüber reden. Oder Entscheide überprüfen, die unter Druck gefallen sind.

Wie gehen Sie mit schwierigen Leuten im Strafvollzug um?
Umgang mit Gewalt und schwierigen Situationen ist nicht Sache des Einzelnen. Es braucht eine gute Zusammenarbeit, es müssen alle am gleichen Strick ziehen. Dabei gibt es verschiedene Methoden, die in dieselbe Richtung gehen. Primär ist in jedem Fall, dass die Richtung klar ist und sich alle daran beteiligen und halten. Gerade im Umgang mit renitenten Gefangenen ist die Arbeit eines Teams gefragt, das gut zusammenspielt. So ist es auch möglich, gemeinsam Verhaltensänderungen einzufordern. Es geht vor allem darum, die gegebenen Regeln einzuhalten. Der Problemverursacher muss merken: Wenn ich mich an die Regeln halte, ist es gut; wenn ich mich nicht daran halte, ergeben sich für mich Nachteile. Zum Beispiel Einschränkungen in der Freizeit. Dieses Vorgehen ist im Strafvollzug üblich, auch bei Untersuchungsgefangenen. Jede Kultur braucht ihre Regeln, auch oder eben gerade im Gefängnis.

Was kann eine Gesellschaft tun, um möglichst wenig Menschen in die Kriminalität abgleiten zu lassen?
Ich sehe vor allem, dass viele Menschen aus Kriegsgebieten straffällig werden. Kriege führen dazu, dass die Hemmschwellen für Verbrechen sinken. Es wird zum Beispiel normal, Menschen zu töten. Wer das über längere Zeit getan hat, verliert die Hemmschwelle. Aber auch in unserer Gesellschaft könnte der Umgang mit Konflikten noch stärker thematisiert werden. Das Thema Zusammenleben – in Familien oder auch in Ehen und in christlichen Gemeinden – hat noch Potenzial. Man kann eine Familie gründen, ohne dass man sich dafür qualifizieren muss. Das Training für das Zusammenleben muss früh beginnen, es gehört zur Grundsozialisation des Menschen in unserer Gesellschaft. Mein Traum ist, dass neben dem Elternhaus auch in Schulen das Training des Zusammenlebens zum Pflichtfach wird. Die Frage, wie man in einer Partnerschaft zusammenlebt, müsste zwingend zum Thema werden.

Können auch die Kirchen etwas dafür tun?
Es ist fast schon zu spät, wenn dieses Training erst in der Kirche geschieht. Vor allem auch, weil viele Menschen ihr den Rücken gekehrt haben. In der Kinder- und Jugendarbeit müsste das Zusammenleben ein Thema sein. In den christlichen Gemeinden vermisse ich oft die Fähigkeit, sorgfältig miteinander umzugehen. Auch hier erlebe ich Böses, ja teils schon fast deliktisches Verhalten!

Wie hilfreich ist die Arbeit der Gefängnisseelsorger oder von Christen, die Gefangene regelmässig besuchen?
Da mache ich gute Erfahrungen. Die Justizvollzugsanstalt hat reformierte und katholische Seelsorger angestellt. Auch die Heilsarmee ist sehr akzeptiert bei den Gefangenen. Diese können sich für ein Gespräch anmelden, und die Gelegenheit wird rege benützt. Auch «Prison Fellowship» bietet Einzelgespräche und Gottesdienste an; ihre Mitglieder besuchen auch Gefangene, die sonst keinen Besuch bekommen. Weitere Freiwillige tun eine wertvolle Arbeit, die von den Insassen geschätzt wird, die ja oft wenig Kontakte haben. Gerade auch muslimische Gefangene schätzen die Betreuung durch die erwähnten Seelsorgenden.

Verhaltenskodex für Gefängnismitarbeitende (Auszug)

Mein Umgang mit Mitarbeitenden und Vorgesetzten
-    Ich mache Mitarbeitende fair und sachlich auf Fehler aufmerksam.
-    Ich trage keine Auseinandersetzungen vor Gefangenen aus.
-    Was andere tun oder unterlassen, ziehe ich nicht als Massstab für mein eigenes Handeln heran.
-    Ich stehe zu meinen Fehlern und melde Fehlverhalten umgehend meiner vorgesetzten Stelle.
-    Ich begegne den Mitarbeitenden und Vorgesetzten mit Wertschätzung. Wir tragen Sorge zueinander.
-    Mitarbeitende und Vorgesetzte können sich auf mich verlassen.

 

Zur Person

Bruno Graber, 60, verheiratet, 2 Töchter, 7 Enkel und Enkelinnen, ist seit 2011 Leiter des Zentralgefängnisses der Strafanstalt Lenzburg. Er liess sich als dipl. Vollzugsangestellter, Sozialpädagoge und Erwachsenenbildner ausbilden und hat mittlerweise über 30 Jahre Erfahrungen im Strafvollzug, u.a. als Leiter des Hochsicherheitstraktes in Lenzburg, was ihn auch für die Medien und Ausbildungsstätten interessant gemacht hat. So unterrichtet er an verschiedenen Schulen und Institutionen. Graber ist Mitglied der Freien Missionsgemeinde Zofingen/Strengelbach, die er auch etliche Jahre als Gemeindeleiter geführt hat.

Zur Webseite
Homepage von Bruno Graber

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Datum: 22.10.2015
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet / Insist

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