Ein Suizidhaus

Eine Stadt gegen Dignitas?

Vor fünf Wochen wurde bekannt, dass Ludwig A. Minelli für seine Organisation Dignitas im Zentrum von Wetzikon ein Haus gekauft hatte. Ein Podium am 25. September erläuterte die Arbeitsweise der umstrittenen Organisation und die Gesetzeslage und diskutierte, wie die Stadt im Zürcher Oberland sich gegen ein Suizidhaus wehren kann.
Im braunen Haus rechts im Zentrum von Wetzikon, in der Nähe von Schulen, will Dignitas Lebensmüde in den Tod begleiten.
Erschütternde Details: Soraya Wernli in Wetzikon, rechts Gesprächsleiter Gerhard Fischer.
Das Strafgesetz ändern! EVP-Nationalrat Ruedi Aeschbacher legte die gesetzgeberischen Optionen dar.
Hält der Protest an? Gegen 70 Personen folgten dem Podium.

Die Wetziker Primarschulpräsidentin Ursi Cossalter, die den Diskussionsabend im Kronensaal im Namen der veranstaltenden EVP eröffnete, machte deutlich, dass sie den Standort für ganz ungeeignet hält. Das Vorhaben des Dignitas-Chefs, Suizidbegleitungen in einem Haus in der Nähe von zwei Schulen, einem Kindergarten und einem Altersheim durchzuführen, ärgert viele Wetziker und hat zu einer Petition und einer Unterschriftensammlung der Kirchen am Ort geführt. Jede wurde von über 1000 Personen unterzeichnet.

Mitten in der Stadt

Markus Hertig, Vertreter der Petitionäre, sieht von seiner Küche auf die Liegenschaft an der Talstrasse. Er wandte sich gegen Suizidbegleitungen an einem zentralen Ort; dabei kam die Sorge um den Wertzerfall angrenzender Liegenschaften zum Ausdruck. Ob die als skandalös gewerteten Praktiken baurechtlich verhindert werden können, ist laut Hertig ungewiss. Denn im Quartier ist auch Gewerbe zugelassen; dies stellt Wetzikon zwischen Stäfa (Wohnzone; Verbot erwirkt) und Schwerzenbach (Industriezone; Dignitas aktuell tätig). Zürich habe wegen des Rotlichtmilieus seine Bau- und Zonenordnung angepasst; nun sei Wetzikon gefordert.

Soll alles einen Preis haben?

Der frühere Wetziker Gemeindepräsident Max Homberger meinte, am Standort sei baurechtlich nicht zu rütteln. Wetzikon habe das Bauen seit langem liberal geregelt. Er wollte den Sterbetourismus und das Angebot an sich nicht gebrandmarkt haben. Mit dem Leben würden von Beginn weg Geschäfte gemacht, sagte Homberger. Der schändliche Handel mit Organen von Menschen in der Dritten Welt wecke jedoch kaum Empörung. „Wenn jemand einem Menschen am Schluss hilft, dann darf das auch einen Preis haben, wie alles im Leben.“

Im scharfen Gegensatz dazu strebt der in der Nachbargemeinde wohnende EVP-Nationalrat Ruedi Aeschbacher ein landesweites Verbot der Beihilfe und Anstiftung zum Suizid an; diese dürfe nicht straflos bleiben, sagte er auf dem Podium. Sein Vorstoss zur Unterbindung des Sterbetourismus ist in Bearbeitung. Die amtierende Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf habe das Problem anerkannt.

Damals und heute

Die einzigartig liberale Regelung im Schweizer Strafgesetzbuch ist nach Aeschbacher entstanden, weil man Anfang des 20. Jahrhunderts einzelne Personen nicht hart bestrafen wollte. Sie hätten unter grossen Skrupeln. „im Sinne eines Freundschaftsdienstes“, schwerstleidenden Verwandten ermöglicht, mit einer hohen Schmerzmitteldosis ihr Leben zu beenden. Die heutige organisierte, geschäftsmässig angebotene Suizidbegleitung sei etwas ganz Anderes. Aeschbacher lehnt sie vehement ab und will ihr „so rasch wie möglich“ einen juristischen Riegel geschoben haben. Zu überlegen sei, ob das Gesetz so gefasst werden könne, dass bei Sterbebegleitung kein Geld fliessen darf.

Auch Junge und psychisch Kranke

Soraya Wernli, während Jahren enge Mitarbeiterin von Ludwig A. Minelli, heute eine entschiedene Gegnerin der von ihm gänzlich kontrollierten Organisation, schilderte deren Praktiken und ihren Wandel zum Schlechten im Lauf der Jahre. In der Regel musste das im Ausland wohnende Mitglied sich mindestens während 14 Tagen in der Schweiz aufhalten, damit in dieser Zeit intensive Gespräche geführt werden können. Doch dann habe Dignitas auch „ganz junge Menschen, die noch Jahre hätten leben können“, das Sterbemittel verschafft. „Sie wurden nicht gut abgeklärt“, sagte Wernli. Man habe Ehepaare in den Tod begleitet, obwohl nur eine Person krank war.

„Es geschah noch am selben Tag“

Als sehr problematisch bezeichnete die Pflegefachfrau, dass bei Dignitas die meisten psychisch Kranken aus dem Ausland anreisen. „Es kamen Leute aus der ganzen Welt. Am gleichen Tag suchten sie den Arzt auf – und es geschah noch am selben Tag. Die Leute haben überhaupt keine Bedenkzeit.“ Dies prangerte Wernli als menschenverachtend an: „Einem 23-Jährigen wegen einer depressiven Stimmung nichts mehr anbieten als den Tod – das ist nicht würdevoll.“

Der hart kritisierte Dignitas-Chef war am Abend nicht anwesend. Der EVP-Kantonsrat und bekannte Suizidhilfe-Gegner Gerhard Fischer, der das Podium engagiert leitete, ging kurz auf den Grund ein: Man habe Ludwig A. Minelli brieflich eingeladen und er habe sich zuerst negativ und dann ausfällig dazu geäussert.

Geld im Spiel

Soraya Wernli berichtete, dass Minelli von Kundinnen über den verlangten Preis (derzeit 7000 Euro) hinaus grosse Beträge erhielt. „Viele einsame Menschen, die ein Vermögen haben, sind traurig und wissen nichts anderes, als sich das Leben zu nehmen. Sie sind dann sehr grosszügig und geben Minelli Geld in bar.“ In einem Fall sei eine Frau in Deutschland vom Dignitas-Chef besucht worden. Nachdem er ihr zugesichert hatte, sie könne nach sechs Monaten zum Suizid in die Schweiz reisen, verschloss sie sich allen Bemühungen ihrer Umgebung, einen anderen Weg zu finden.

Laut Wernli hat die Zürcher Gesundheitsdirektion mehreren Ärzten, die mitwirkten, die Bewilligung entzogen. Die lange Bearbeitungszeit, welche Minelli als Plus anführe, ergebe sich daraus, dass Ärzte sich öfter geweigert hätten, das Rezept fürs Todesmittel auszustellen. Die Generalvollmacht, welche Minelli sich geben lasse, brauche es fürs Zürcher Krematorium nicht, sagte die frühere Dignitas-Mitarbeiterin.

Mitleid: zum Weiterleben motivieren

Der Wetziker icf-Pastor Jan Micha Schmitter, teilzeitlich in einem Psychiatrie-Wohnheim tätig, brachte seine Bewunderung für Menschen zum Ausdruck, die Leidende oder Demente betreuen und zum Weiterleben motivieren. „Menschen mit Mitleid sind jene, die zum Leben Mut machen.“ Die Pfarrer und Pastoren der Wetziker Kirchen hätten sich spontan und einmütig zu der Unterschriftenaktion entschlossen. In zehn Tagen unterzeichneten 1173 Einwohner.

Schmitter bezeichnete die Kirchen als „Kompetenzzentren fürs Leben“. Wenn Minelli auf das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen poche, müsse klar sein, dass die Gesellschaft als ganze von Suiziden betroffen sei. Wie Amokläufe riefen auch Selbsttötungen Nachahmer auf den Plan. Schmitter verwies auf Suizidserien von Teenagern in Grossbritannien. „Wir sind versessen auf Selbstbestimmung – und vergessen Lebensrechte.“

Im Unterschied zu Schwerzenbach, wo der Vermieter Dignitas die Methode des Erstickens mit Helium habe verbieten können, sei Minelli in Wetzikon nun selbst Besitzer, sagte Wernli. „Kein Vermieter wird das Vergasen stoppen. Wie wollen sie das Kindern erklären??“

Anhaltende Proteste?

Diese Woche soll die Petition dem Wetziker Gemeindepräsidenten übergeben werden. Ruedi Aeschbacher erläuterte an einem Stadtzürcher Beispiel, dass die Politik reagiert, wenn Bürger anhaltend und unbeugsam in der Öffentlichkeit für ihre Sache eintreten. Ob dies in Wetzikon gelingt? Michael Hertig brachte die Spannung mit einer Bemerkung zur rechtlichen Gewichtung ideeller Immissionen auf den Punkt: „Wir haben keine Vorschriften, die Gefühle betreffen. Die kann man nicht in eine Bauordnung fassen.“

Artikel zum Thema: Dignitas-Hauskauf in Wetzikon

Datum: 01.10.2008
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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