Ein Akt der Liebe oder ein Schritt über die Grenze?

Dr. Werner Neuer unterrichtet auf St. Chrischona unter anderem das Fach Ethik. Er setzt sich mit dem Thema Sterbehilfe auseinander. Argumente für Christen in einer gesellschaftlich brisanten Diskussion und ein Plädoyer gegen die Unkultur des Todes.
Wenn ältere Menschen leiden: Oft hat der Sterbewunsch mit mangelnder Zuwendung zu tun.

Zehntausende schliessen sich Sterbehilfe-Organisationen an. Der Druck auf die Politik wächst, aktive Sterbehilfe gesetzlich zu erlauben. Was spricht denn gegen einen "würdigen Tod", wie ihn auch namhafte Theologen und Philosophen fordern?

Das Wort "Sterbehilfe" hat etwas Schillerndes und bedarf der Klärung: Ist damit die Hilfe beim Sterben gemeint, die dem Todkranken die nötige Pflege, medizinische Betreuung und menschliche beziehungsweise seelsorgerliche Hilfe gewährt und so das Sterben erleichtert? Oder meint der Begriff die Hilfe zum Sterben, das heisst die Erfüllung des Sterbewunsches von Schwerkranken, die angesichts der Schwere ihrer Erkrankung nicht mehr weiterleben wollen? Beide Handlungen sind natürlich ethisch grundverschieden zu bewerten, auch wenn sie beide von der Absicht geleitet sind, dem Kranken zu helfen. Es gehört zu den besonderen Schwierigkeiten heutiger ethischer Entscheidungsfindung, dass häufig die zur Beurteilung anstehenden Handlungsweisen mit unklaren Begriffen bezeichnet werden. So kann ein positiv klingender Begriff wie "Sterbehilfe" (wer möchte denn ernsthaft gegen "Hilfe" für Sterbende sein?) dazu missbraucht werden, dass er die Tötung eines Menschen bezeichnet, ohne dass dies der Wortlaut unzweideutig erkennen lässt. Beginnen wir also mit einer Klärung der Begriffe!

Aktive und passive Sterbehilfe

Was gemeint ist? Man unterscheidet heute in der ethischen Diskussion zwischen "aktiver Sterbehilfe" und "passiver Sterbehilfe":

- Die so genannte "aktive Sterbehilfe" meint jedes bewusste, aktive Eingreifen des Mediziners, das auf die Beendigung des Lebens, also auf den Tod des Patienten, zielt, um ihm weiteres Leiden zu ersparen.

- Die so genannte "passive Sterbehilfe" dagegen verzichtet lediglich auf lebensverlängernde Massnahmen oder bricht diese ab, um dem Patienten ein möglichst natürliches Sterben zu ermöglichen und eine unnötige Verlängerung des Leidens zu ersparen.

- Wenn die zur Linderung des Leidens eingesetzten Medikamente (vor allem Schmerz mittel) als unbeabsichtigte Nebenfolge den Eintritt des Todes beschleunigen, spricht man von "indirekter Sterbehilfe". Die beiden letztgenannten Formen von passiver beziehungsweise indirekter Sterbehilfe werden - sofern sie mit Zustimmung der Patienten erfolgen - in der Regel als ethisch und juristisch unbedenklich akzeptiert, da sie das Tötungsverbot nicht verletzen.

Wachsender Druck

Der eigentliche Streit geht um die sittliche Berechtigung der so genannten aktiven Sterbehilfe, die in den angelsächsischen Ländern als "Euthanasie" bezeichnet wird - ein Ausdruck, der bis zum Dritten Reich auch in Deutschland üblich war, aber wegen des NS-Euthanasieprogramms nach dem Zweiten Weltkrieg heute von den Befürwortern der "aktiven Sterbehilfe" verständlicherweise vermieden wird. Die "aktive Sterbehilfe" findet international immer mehr Anhänger und ist in den Niederlanden bereits juristisch erlaubt. Nach den vorliegenden Umfragen muss damit gerechnet werden, dass die Mehrheit (das heisst zwischen 70 und 90 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung) aktive Sterbehilfe inzwischen bejaht. Unterstützt wird diese Majorität von namhaften Theologen wie Hans Küng, Philosophen wie Norbert Hoerster und anderen prominenten Persönlichkeiten. So hat zum Beispiel der Schriftsteller Martin Walser die provozierende Devise ausgegeben: "Wir wollen sterben dürfen, wann und wie es uns passt. Solange eine Gesellschaft dafür nicht jede erdenkliche Freiheit schafft, ist es keine freie Gesellschaft, sondern ein peinlicher Verein zur Einpferchung des Lebens." Der Druck auf die Staaten Europas wird in den nächsten Jahren weiter steigen, nach dem Vorbild der Niederlande aktive Sterbehilfe europaweit gesetzlich zu legitimieren. In Holland hat der öffentliche Druck dazu geführt, dass schon seit über zehn Jahren in Tausenden von Fällen jährlich "aktive Sterbehilfe" (teilweise ohne Einverständnis der Patienten!) praktiziert wird. Im April 2001 wurde dieser Zustand legalisiert, indem das holländische Parlament das weltweit erste Euthanasiegesetz verabschiedete.

Unkultur des Todes

Die Christen und christlichen Kirchen sind gerufen, sich der bereits mit der Liberalisierung der Abtreibung eröffneten und durch die Euthanasie weiter fort-schreitenden Unkultur des Todes entgegenzustellen und mit aller Entschiedenheit für Lösungen einzutreten, die das göttliche Gebot "Du sollst nicht töten!" (2 Mose 20,13) nicht verletzen. Es liegt auf der Hand, dass auf der Grundlage des keineswegs nur für die Christen, sondern für alle Menschen gültigen biblischen Tötungsverbotes "aktive Sterbehilfe" in jeder Gestalt (das heisst auch dort, wo es der Patient ausdrücklich wünscht!) abgelehnt werden muss: Kein Mensch hat das Recht, über eigenes oder fremdes menschliches Leben zu verfügen, es eigenmächtig zu verkürzen oder zu beenden! Dieser allgemein geltende Grundsatz ist für den Arzt von besonderer Bedeutung, weil seine gesamte Tätigkeit dem Leben dient und das Vertrauen des Patienten ganz davon abhängt, ob er dem Arzt in dieser Hinsicht völlig vertrauen kann. Der jüdische Philosoph Hans Jonas hat zu Recht betont: "Die Rolle des Tötens darf dem Arzt nie zufallen... Nie darf ein Patient argwöhnen müssen, dass sein Arzt sein Henker wird."

Mangelnde Zuwendung

Aber gibt es nicht Grenzfälle, in denen die vorzeitige Beendigung einer unerträglich scheinenden Leidenssituation sich jedenfalls dann als Akt der Liebe rechtfertigen lässt, wenn der Betroffene selbst darum bittet? Abgesehen davon, dass Gott auch in solchen Fällen der alleinige Herr über Leben und Tod bleibt und wir als seine Geschöpfe sein Schöpferrecht auch dann unbedingt zu respektieren haben, zeigt die Erfahrung, dass die Bitte um Lebensverkürzung in der Regel auf mangelnde Zuwendung durch die betreuenden Personen zurückzuführen ist. Der Mediziner Richard Lamerton, der jahrelang eine Sterbeklinik in London leitete, brachte nicht nur seine eigene, sondern auch die weltweite Erfahrung zahlreicher Betreuer auf diese Formel: "Wenn jemand wirklich Euthanasie verlangt, dann muss sich irgend jemand nicht genug um ihn gekümmert haben." Im Übrigen darf nicht vergessen werden, dass die so genannte Palliativmedizin in den vergangenen Jahren enorme Fortschritte in der Schmerzbehandlung gemacht hat.

Menschenwürdiges Sterben

Angesichts der noch nie dagewesenen Möglichkeiten der modernen Medizin, menschliches Leben mit zum Teil sehr aufwändigen und teuren Techniken zu verlängern, wäre es freilich verfehlt, als ethische Alternative zur aktiven Sterbehilfe eine maximale Lebensverlängerung um jeden Preis zum Ziel oder gar zur Pflicht ärztlichen Handelns zu erklären. Denn heute ist nicht nur das Recht auf Leben bedroht, sondern auch das Recht auf ein menschenwürdiges Sterben! Der christliche Philosoph Robert Spämann prangert zu Recht die durch die moderne Apparatemedizin möglich gewordenen "Formen gewaltsamer Lebensverlängerung" an: "Es ist nicht human, jeden Menschen, dessen Organismus definitiv versagt und mit dem es zu Ende geht, mit allen Mitteln zum Leben zu zwingen."

Einzigartige Perspektive

Der Arzt hat die Aufgabe, den natürlichen Sterbeprozess zu erleichtern (vor allem durch Schmerzlinderung), keineswegs aber, ihn künstlich in die Länge zu ziehen. Es ist aus christlicher Sicht daher zu begrüssen, dass sich seit einigen Jahren die internationale Hospizbewegung um ein menschenwürdiges Sterben bemüht, ohne den Irrweg der aktiven Sterbehilfe zu beschreiten. An diesem Bemühen mit ihren besonderen Gaben und Möglichkeiten mitzuwirken: Das ist heute mehr denn je der Auftrag der Christenheit! Denn die Christen haben die einzigartige Botschaft weiterzugeben, dass durch Jesu Auferstehung der Tod ein für allemal besiegt ist und dass jeder, der an Jesus Christus glaubt, nach dem irdischen Leben mit einem Leben ewiger Erfüllung und Freude rechnen darf (Johannes 3,16).

Autor: Dr. Werner Neuer, St. Chrischona

Datum: 13.05.2003
Quelle: Chrischona Magazin

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