Sendung zu Bilanzsuizid

Darf ein Mensch selbst entscheiden, wann er gehen will?

Die Sterbehilfsorganisation Exit möchte auch Menschen in den Tod begleiten, die im Weiterleben keinen Sinn mehr sehen, aber nicht todkrank sind. Gegner dieses Bilanzsuizids befürchten einen unkontrollierten Dammbruch, der alte Menschen unter Druck setzen könnte.
Die beiden Theologen Walter Fesenbeckh, Sterbebegleiter bei Exit und Frank Mathwig, Ethiker beim SEK diskutierten bei Life Channel unter der Leitung von Daniel Rehfeld.

Der christliche Radiosender Life Channel (Pfäffikon ZH) widmete sich der Frage, ob ein Bilanzsuizid ein Menschenrecht oder doch ein ethischer Dammbruch sei, im Rahmen der Themensendung «Zoom». Redaktionsleiter Daniel Rehfeld leitete das Gespräch mit dem prominenten Beispiel des Glarner SVP-Ständerats This Jenny ein, der wegen seiner Krebskrankheit von der politischen Bühne abtreten musste. Jenny hatte im Frühling erklärt, dass er den Freitod als Option sehe, wenn er keine Perspektive mehr sehe. Dies brachte Exit erneut in die Schlagzeilen.

Zwei Theologen mit unterschiedlichen Positionen

Zur Diskussion lud Life Channel zwei Theologen ein, die beim Thema Sterbehilfe total gegenteilige Positionen vertreten: Walter Fesenbeckh, Theologe und pensionierter Pfarrer, Sterbebegleiter bei Exit und Frank Mathwig, Uni-Professor und Beauftragter für Theologie und Ethik beim Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund (SEK). Hier ein Auszug aus der hörenswerten Talksendung «Zoom» von Life Channel:

Walter Fesenbeckh, Ihnen wird von christlichen Ethikern vorgeworfen, sie würden Sterbehilfe für Gesunde propagieren. Exit wolle Alte entsorgen und damit abkassieren. Was sagen Sie zu dieser Kritik?
Walter Fesenbeckh: Das trifft so nicht zu. Die Freitodbegleitung kostet für ein Mitglied der Sterbehilfsorganisation Exit nichts. Exit verdient also nicht mehr, wenn auch Menschen begleitet werden, die lebensmüde sind. Alle Dienstleistungen werden durch die rund 72'000 Mitglieder getragen, die jedes Jahr ihren Mitgliederbeitrag bezahlen. Die Änderung der Statuten dient nur dazu, auch transparent zu machen, dass Sterbewillige auch beim Bilanzsuizid begleitet werden. In der Praxis wurde dies bisher bereits angeboten.

Frank Mathwig, Sie sind Ethiker des SEK. Wo sehen Sie hauptsächlich die Schwierigkeiten in dieser Praxis von Exit?
Frank Mathwig: Dammbruch, weil man Leute unter Druck setzt und ihnen vormacht, sie seien für nichts mehr da. Deshalb wählen sie den Freitod bei Exit. Weil Exit eine Lösung anbietet, erhöht sich die Gefahr, dass wir uns nicht mehr oder weniger um die Alten und Gebrechlichen kümmern müssen. Der Druck ist höher, wenn es keinen einfachen Ausweg gibt. Generell denke ich, dass Gebrechlichkeit ein neues Tabu in der Gesellschaft ist, sei es am Lebensanfang mit dem Trend zur Präimplantationsdiagnostik oder am Lebensende. Wir sind eine Gesellschaft, die verlernt, mit Behinderung und chronischen Leiden umzugehen.

Walter Fesenbeckh: Da stimme ich zu. In der Gesellschaft bahnt sich ein Leitbild nach dem Motto «Der Mensch muss fit sein» an. An diesem schlechten Bild der Menschen des 4. Lebensalters ist aber nicht Exit schuld, sondern die Gesellschaft selbst. Sie sollte neue Möglichkeiten finden, Sinn zu geben. Fakt ist, dass es eine Gruppe von Menschen zwischen 80 und 95 Jahren gibt, die mit all ihren Gebrechlichkeiten das Leben nicht mehr als sinnvoll betrachten. Gebrechlich werden ist für viele der Verlust von Sinn. Ich finde es richtig, wenn diese Menschen eigenverantwortlich bestimmen können, wann sie aus dem Leben gehen wollen.

Frank Mathwig: Mit Selbstbestimmung habe ich grundsätzlich kein Problem. Doch der Freiheitsbegriff ist aus christlicher Sicht noch komplexer. Es geht um die christliche Freiheit. Martin Luther zum Beispiel hat eine Autonomie abgelehnt. Er sagte dazu: Der Mensch soll nicht selbst sein eigener Souverän sein. Ich habe zwar die Verantwortung zu entscheiden, aber am Ende ist Gott der Souverän.

Was sagen Sie denn dazu, dass auch Christen den Freitod wählen, Frank Mathwig? Und was wäre für Christen aus biblischer Sicht die richtige Art, mit Lebensmüdigkeit umzugehen?
Frank Mathwig: Es gibt keine Patentlösung. Ich denke, wir sollten anerkennen, dass es zum Leben dazu gehört, auch mit Sinnlosigkeiten leben zu können. Es braucht eine Sinnlosigkeitstoleranz – gerade vom christlichen Glauben her, weil da der Sinn meines Lebens von aussen her kommt – von Gott. Ich muss mir nicht selbst meinen Sinn schaffen.

Walter Fesenbeckh: Dies sehe ich anders. Die Souveränität Gottes ist an uns übertragen. Die Souveränität wird nicht mehr von oben kontrolliert. Wir unterstehen nicht mehr dieser Verfügungsgewalt Gottes. Für mich ist dies die selbstverständliche Wahrnehmung der Entscheidungsfreiheit, die wir als Geschöpfe Gottes haben. Diese Selbstbestimmung gilt auch bei der Frage, wie und wann ich mein Leben beenden will. Aber hier gibt's in der Theologie ganz unterschiedliche Standpunkte.

Zum Ende möchte ich Sie gerne um eine Prognose bitten. Gesellschaft ist im Wandel. Suizidbeihilfe scheint salonfähig zu werden. Denken Sie, dass sich diese Entwicklung fortsetzt?
Frank Mathwig: Als Theologe bin ich nicht
spezialisiert für Prognosen, sondern eher für Hoffnung. Ich hoffe, dass es mehr Mut zum unperfekten Leben und zum
unperfekten Menschen gibt.

Walter Fesenbeckh: Ich kann nicht beantworten, wie sich die Einstellung zum Leben und zur Zerbrechlichkeit verändern wird. Das ist nicht Sache der Exit. Klar ist, dass Exit auch in Zukunft nur eine kleine Minderheit bedient. Nur 1% aller jährlich Sterbenden wird von Exit begleitet. Es ist also keine Volksbewegung und wird auch in Zukunft keine werden.

Datum: 16.07.2014
Autor: Daniel Rehfeld
Quelle: Life Channel

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