Wohnt Gott hinter dem linken Ohr?

ohr
Vilayanur Ramachandran

Frankfurt am Main. Wenn Paul in früheren Zeiten gelebt hätte, wäre er wahrscheinlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt oder als Heiliger verehrt worden. Der US-Amerikaner leidet an einer seltenen Form der Epilepsie, der so genannten Temporallappen-Epilepsie. Bei jedem Anfall, wenn in den Schläfenlappen seines Gehirns die „Blitze“ schmerzhaft zucken, erlebt Paul intensive göttliche Visionen, die sein Leben auch nach dem Krankheitsschub religiös prägen.

US-Neurologen wie Vilayanur Ramachandran aus San Diego haben solche Patienten mit modernsten bildgebenden Verfahren untersucht, um im Gehirn den Wurzeln des Glaubens, der Religiosität nachzuspüren. „Er sieht das Universum in einem Sandkorn und schwimmt in einem Meer religiöser Ekstase“, beschreibt Ramachandran die Gefühle von Paul. Wie das Heidelberger Forschungsmagazin „Gehirn & Geist“ in seiner neuen Ausgabe berichtet, entstehen die leidenschaftlichen Visionen vor allem dann, wenn das Zentrum des Epilepsieanfalls im Hirnareal hinter dem linken Ohr liegt.

Die Gewitter im Schläfenlappen wirken nach den Forschungsergebnissen des Neurologen in Zusammenarbeit mit dem so genannten limbischen System des Gehirns. Dort werden unter anderem Sinneseindrücke und Erfahrungen beurteilt. Besonders Wichtiges wie eigene Kinder oder Gefahr wird mit hoher emotionaler Wertigkeit belegt und wie ein Stempel in unsere Hirnwindungen eingebrannt. Vor allem die Amygdala des limbischen Systems, ein entwicklungsgeschichtlich uraltes erbsengroßes Nervenbündel, spielt dabei eine große Rolle. Sie beurteilt Informationen rein emotional, ohne die Einschätzung des „jüngeren“ Bewusstseins abzuwarten.

Vernahmen Moses, der Apostel Paulus oder der Prophet Mohammed ihre religiöse Botschaft also während eines Schläfenlappenanfalls, fragten sich die Washingtoner Gehirnforscher William Calvin und George Ojemann. Überzeugende Argumente für bekennende Atheisten liefern die Wissenschaftler aber nicht. Im Gegenteil: Die Ergebnisse der neueren Hirnforschung legen nahe, dass religiöses Denken im Gehirn der Menschen genetisch fest vorprogrammiert ist. Es ist sozusagen dafür „geschaffen“, an Gott zu glauben, meint Ramachandran. „Es gibt eine neuronale Basis für religiöse Erfahrungen.“

Der Neurologe Andrew Newberg aus Philadelphia untersuchte laut „Gehirn & Geist“ in seinem Labor acht Versuchspersonen, die mit den Meditationstechniken des tibetanischen Buddhismus vertraut waren. Im Moment der tiefsten Versenkung injizierte er über eine Infusionsleitung eine radioaktive Substanz, um zu messen, welcher Hirnbereich besonders aktiv war.

Dieser „Schnappschuss vom Nirwana“ ergab, dass in den Scheitellappen besonders das so genannte „Orientierungs-Assoziations-Areal“ aktiv war, in dem das Gefühl für die Grenzen des eigenen Körpers und Informationen über Raum und Zeit verarbeitet werden. „Ich fühlte, wie Gottes Existenz mich durchdrang“, gab eine der Versuchspersonen ihre Erfahrungen wieder. Newberg vermutet, dass die Hirnregion hinter dem linken Ohr die Grenze zwischen dem Selbst und der Welt nicht mehr definieren kann, weil Meditierende ihre Sinne für die Außenwelt abschalten. Ohne Zufuhr von Informationen entsteht das Gefühl von Ewigkeit und Endlosigkeit, der „Atem Gottes“ wird spürbar.

Datum: 03.06.2002
Quelle: Epd

Publireportage
Werbung
Livenet Service
Werbung