«Deutlich aggressiverer Ton»

Antisemitismus in der Schweiz: mehr gravierende Vorfälle

«2014 registrierten wir in der Deutschschweiz so viele antisemitische Vorfälle wie noch nie. Die Zunahme liess sich nicht nur im Internet, vor allem auf Facebook, sondern auch im realen Leben beobachten.» Das hält der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) in seinem «Antisemitismusbericht 2014» fest.
Antisemitismus
2014 gab es in der Deutschschweiz so viel antisemitische Vorfälle wie noch nie.
Ahmad Mansour, Psychologe und Autor.

Beunruhigender als die quantitative Zunahme sei die qualitative Veränderung der Angriffe: «Vor allem im Sommer 2014 waren Posts im Internet, aber auch Zuschriften per Mail und per Post sowie verbale Angriffe auf Jüdinnen und Juden auf der Strasse deutlich aggressiver als in früheren Jahren», analysiert der SIG. Ein Grund dafür sei die militärische Eskalation zwischen Israel und dem Gazastreifen im Sommer des vergangenen Jahres. Solche Ereignisse brächten latentes Gedankengut oft erst an die Oberfläche - «Antisemitismus wird plötzlich sichtbar, manifestiert sich lautstark oder gar gewalttätig», so der Bericht. Es gebe einen «Grundstock» an Antisemitismus, der dann durchbreche: «Wenn mehr als jeder zehnte Bürger in der Schweiz eine klar antisemitische Einstellung hat, ist dieser Anteil weiterhin hoch – zu hoch.»

Aussergewöhnlich feindselig

Es sei nichts Neues, dass während militärischer Eskalationen die Zahl antisemitischer Vorfälle steige. Aber die Schwere der Vorfälle und die Stärke der Zunahme im letzten Jahr sei auffällig. Der Bericht hält körperliche Angriffe auf Juden in Davos und Zürich fest. Die tatsächliche Anzahl der Übergriffe sei vermutlich höher, da bis zu 70 Prozent antisemitischer Vorfälle nicht gemeldet würden – meist aus Angst.

Die meisten Angriffe bestehen allerdings aus Zuschriften und Facebook-Einträgen, die teilweise «aussergewöhnlich feindselig» gewesen seien – jüdische Personen wurden beschimpft, beleidigt oder gar mit dem Tode bedroht. Auch wurde angekündigt, dass eine Synagoge gesprengt würde. Facebook-User drohten damit, «ins Zürcher Judenquartier einzumarschieren» und Juden zu attackieren; es wurde in Posts bedauert, dass Hitler «sein Werk nicht vollendet» habe. «Alle Juden müssen erschossen werden», war beispielsweise in der Facebookgruppe «Demo für Palästina in der Schweiz» zu lesen, oder «Juden sind dreckige Lockenköpfe – es wird auf der Welt erst Frieden geben, wenn alle vernichtet sind.» Gegen mehr als 20 Personen wurden Strafverfahren eingeleitet.

Antisemitismus unter Muslimen

Die Analyse der 2014 erfassten antisemitischen Vorfälle auf sozialen Medien zeige, dass «ein bedeutender Teil der Vorfälle von Menschen mit muslimischem Hintergrund stammt», so der Bericht. Ein grosser Teil derer, die gegen Juden hetzten, seien junge Männer zwischen 15 und 30 Jahren; bei der Mehrheit lasse sich ein Migrationshintergrund feststellen.

Diese Feststellung dürfe aber «weder tabuisiert werden noch zu Verallgemeinerungen und Stigmatisierungen führen», hält der Bericht fest. «Klar ist: die allermeisten Muslime sind keine Judenhasser, und Antisemitismus gibt es bekanntlich auch in vielen anderen Bevölkerungsgruppen».

Zu den Ursachen für Antisemitismus unter Muslimen gehörten juden- und israelfeindliche Propaganda in muslimisch geprägten Ländern, wo Antisemitismus oft auch im Schulprogramm und von staatlichen Organisationen verbreitet werde. Solche antijüdischen Inhalte würden dann ebenso in der Schweiz via Internet und Fernsehen konsumiert. So kommt Ahmad Mansour, Psychologe und in Deutschland lebender israelischer muslimischer Araber, zur Feststellung: «Wer täglich mit muslimischen Jugendlichen zu tun hat, weiss, dass die Ereignisse des Sommers 2014 leider nicht als Ausnahmezustand zu betrachten sind. Der Antisemitismus ist im Alltag sehr präsent: auf Schulhöfen, auf Facebook, auf Satellitensendern und in Foren. Das Wort 'Jude' ist unter muslimischen Jugendlichen ein Schimpfwort geworden.»

Weniger als in Nachbarländern

Es gebe in der Schweiz weniger massive Übergriffe als etwa in Deutschland oder Frankreich, hält der Bericht weiter fest. Aber die aggressive Stimmung hätte auch in der Schweiz für «Verunsicherung in Teilen der jüdischen Gemeinschaft» gesorgt. Zum Beispiel trauten sich während der propalästinensischen Demonstrationen viele Juden nicht aus dem Haus, «da auf den einschlägigen propalästinensischen Facebook-Gruppen dazu aufgerufen wurde, im Zürcher Kreis 3, wo es viele Juden gibt, zu demonstrieren oder nach der Demonstration durch dieses Quartier zu ziehen.»

Zur Webseite:
Antisemitismus.ch
Antisemitismus-Bericht 2014
Antisemitismus-Vorfälle in der Schweiz

Zum Thema:
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Datum: 24.03.2015
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet

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