Empfehlungen über das Sterbenlassen von Frühgeborenen

Bern. Die Schweizerische Gesellschaft für Neonatologie empfiehlt, bei Kindern, die vor der 24. Schwangerschafts-Woche geboren werden, von lebenserhaltenden Intensiv-Massnahmen abzusehen. Dies geht aus den neuen "Empfehlungen zur Betreuung von Frühgeborenen an der Grenze der Lebensfähigkeit" der Gesellschaft hervor. In die Empfehlungen sind auch ausdrücklich Kosten-Nutzen-Überlegungen im Sinne einer "Rationierung medizinischer Leistungen" eingeflossen.

Es ist das erste Mal, dass in der Schweiz für eine bestimmte Gruppe Patienten empfohlen wird, wann keine Spitzenmedizin mehr zum Einsatz kommen soll. Die Betreuung der extremen Frühgeburten soll sich in der Regel auf Palliativmassnahmen - auf schmerzbekämpfende Massnahmen - beschränken.

Die in der aktuellen Ausgabe der "Schweizerischen Ärztezeitung" veröffentlichten Empfehlungen richten sich an Ärzte, Hebammen, Kinderkrankenschwestern und an weitere Berufsgruppen, die bei der Betreuung von sehr unreifen Frühgeborenen mitwirken. Die Leitlinien wurden im Auftrag der Schweizerischen Gesellschaft für Neonatologie durch eine achtköpfige Expertenkommission ausgearbeitet.

Sie sind von drei besonders betroffenen Ärztegesellschaften genehmigt worden, nämlich von der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, von der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie und von der Schweizerischen Gesellschaft für Neonatologie. Auch die Zentrale Ethikkommission der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften unterstützt die Empfehlungen.

Begründet wird die Empfehlung, vor der 24. Schwangerschaftswoche von lebenserhaltenden Intensiv-Massnahmen abzusehen, mit dem derzeit aktuellen Stand des Wissens über Sterblichkeit und Langzeit-Erkrankungsraten. Als Grundlage dienten unter anderem die Empfehlungen europäischer, amerikanischer und kanadischer Fachgruppen.

Interdisziplinäres Team und Eltern gefordert

Bei Frühgeborenen nach der 24. Schwangerschaftswoche muss ein erfahrenes Neonatologieteam im Gebärsaal entscheiden, ob der Einsatz intensivmedizinischer Massnahmen sinnvoll sei. Solange berechtigte Hoffnung bestehe, dass das Frühgeborene mit einer akzeptablen Lebensqualität überlebe und die notwendigen Therapien zumutbar seien, sollten die ergriffenen Massnahmen fortgesetzt werden, so die Empfehlungen. Es wird auch festgehalten, die Motivation für einen Therapieverzicht oder Therapieabbruch solle sein, "dem Frühgeborenen unverhältnissmässig grosses Leiden zu ersparen und nicht der Wunsch, zu verhindern, dass es mit einer Behinderung überlebt".

Müssten das betreuende Team und die Eltern erkennen, dass das durch die Therapie zugemutete Leiden, "gemessen am zu erwartenden Gewinn", unverhältnismässig geworden sei, verlören die intensivmedizinischen Massnahmen ihren Sinn. Es solle dann vielmehr alles getan werden, "um dem Kind ein menschenwürdiges Sterben zu ermöglichen und die Eltern in der Sterbebegleitung zu unterstützen".

Nicht nur Überlebenschance, Lebensqualität und Leiden der Frühgeborenen werden in den Empfehlungen der Neonatologen erwogen, ein Abschnitt berührt auch die "Ressourcen im Gesundheitswesen". Sie sprechen darin offen von Rationierung der medizinischen Leistung: "In der Betreuung von Frühgeborenen an der Grenze der Lebensfähigkeit stellt sich die Frage, ob ein erheblicher Anteil der verfügbaren finanziellen Ressourcen für die Behandlung kaum lebensfähiger Frühgeborener mit sehr ungünstiger Prognose verwendet werden darf, wenn diese Mittel dafür in andern Bereichen des Gesundheitswesen fehlen."

Wenn eine Rationierung der eingesetzten Mittel durchgeführt werden müsse, "ist es gerechter, nicht bestimmte Patientenkategorien von einer Therapie auszuschliessen, sondern bestimmte Therapien mit sehr ungünstigem Kosteneffektivitätsverhältnis für alle Patientenkategorien nicht zuzulassen", heisst es in den Empfehlungen.

Datum: 12.08.2002
Quelle: Kipa

Publireportage
Werbung
Livenet Service
Werbung