Wieder in die Kirche eingetreten

Adolf Muschg: «Wir leben in einem religiösen Vakuum»

Am letzten Sonntag hat der renommierte Dichter und Schriftsteller Adolf Muschg (82) im Grossmünster Zürich gepredigt. In einem Interview mit dem Tages-Anzeiger gab er letzte Woche Einblick in sein religiöses Denken – und erklärte, warum er wieder in die reformierte Kirche eingetreten ist.
Adolf Muschg

Nein, Adolf Muschg kann nicht in das Klischee des Mannes gepresst werden, der nun doch endlich im Alter wieder religiös und fromm geworden ist. Zu störrisch sind seine Gedanken und zu liberal seine Überzeugungen. Aber im Interview mit dem Tages-Anzeiger gibt er einige interessante Beobachtungen über die Religion in der Schweiz wieder, auf die es sich zu hören lohnt.

Fromm aufgewachsen

Muschg wuchs nicht im klassischen Sinne reformiert, sondern pietistisch-fromm auf. «Zwingli war eigentlich nicht der Heilige meines Vaters», bekennt er im Interview. «Das waren die Pietisten, der kleine Zirkel, der Hauskreis, wo man den Pfarrer fortschickte, weil man es besser wusste. Das war das Modell meines Vaters. Mein Vater ist zwar in die Kirche gegangen, aber nur, wenn kein Liberaler predigte, sondern ein sogenannt Positiver.» Das war für den jungen Muschg konkret der Pfarrer Hugo Sonderegger, der zwar Positiver war, aber doch Nonkonformist, «der sich befreit hatte von seinen eigenen Windeln und Zwangsjacken. So wie ich.»

In die Kirche wiedereingetreten

Fast sein ganzes Erwachsenleben war Muschg aus der Kirche ausgetreten: «Das war ein Bekenntnisakt. Und paradoxerweise ist es jetzt wieder einer. Ich bin wieder eingetreten vor etwa zwei Monaten», bekennt der Schriftsteller. Wobei es ihm dabei nicht primär um die reformierte Kirche gehe, sondern um den «Status der Religionen in der Gesellschaft überhaupt». Bereits zu Anfang hatte er die Beobachtung geteilt: «Gottesfürchtige Kindheiten, die es in meinem Fall noch gab, sterben aus.» Und was die Rolle der Religion in der Gesellschaft betrifft, stellt er fest: «Heute ist das eine Minderheitenposition geworden».

«Radikale, der Normalität entgegengesetzte Werte»

Muschg kommt auch auf die Kraft des Evangeliums zu reden: «Die Werte, die die Kirche transportiert, wenn sie dem Evangelium treu sein will, sind immer radikale, der Normalität entgegengesetzte, widernatürliche Werte gewesen wie die Feindesliebe. Dieses Gebot der Feindesliebe ist der Kern der evangelischen Botschaft. […] Sie ist für den 'natürlich' genannten Menschen Überforderung pur.»

Als ein Beispiel der gesellschaftsprägenden Kraft des Evangeliums führt er aus: «Aber ohne den Stachel der Feindesliebe: Wie wäre der Staat jemals dazu gekommen, Untertanen als Bürger anzuerkennen? Das heisst: sie von seinem eigenen Anspruch freizustellen und ihre Rechte auch gegen sich selbst zu garantieren? Die Würde des Menschen ist immer die Würde des andern.» Das bedeutet, dass die freiheitlichen Werte unserer westlichen Gesellschaften eine Folge des Evangeliums sind – eine Beobachtung, die allzu gern vergessen geht.

Kirche als Gewissen des Staates – mitten im religiösen Vakuum

Man spürt Muschg ab, dass er um den «prophetischen» Auftrag der Kirche ringt: «Wenn ihm (dem Staat, Anm. d. Red.) in der christlichen Religion wieder etwas von seinem verlorenen Gewissen, seiner verkauften Seele begegnete – wo denn sonst?» Dafür aber «müsste die Kirche selbst wieder mehr sein als eine Agentur guten Verkaufs.»

Er kritisiert: «[Die Kirche] sucht Mieter für leere Kirchenräume oder füllt sie mit Events. Aber die Architektur dieser Räume sagt immer noch, dass sie für etwas anderes gebaut wurden.» Der Auftrag der Religion sei ein permanenter: «Er erschöpft sich nicht in Seelsorge oder Krankenfürsorge. Die Kirche muss in alle unbesetzten Stellen unserer Gesellschaft stossen und hat mehr zu tun als je. Wir leben ja in einem unglaublichen religiösen Vakuum.»

Der Gute Hirte – und das Lamm, das der Welt Sünde trägt

Das Thema der Predigt Muschgs im Grossmünster war der «Gute Hirte». Auf die Frage des Journalisten, ob es sich hier um die «Gegenfigur zum autoritären Gott (seiner) Kindheit» handle, antwortet Muschg: «Vielleicht, aber der Gute Hirte ist eine unglaublich dialektische Figur. Er ist ja auch das Lamm, das der Welt Sünde trägt. Hier scheint das zentrale Opfer der menschlichen Kulturgeschichte auf: der Sündenbock, den wir erst schlachten müssen, bevor wir anfangen können, ihn göttlich zu verehren.»

Offene oder geschlossene Augen?

Eine weitere Frage geht dahin, ob Muschg mehr durch das aufklärerische oder durch das mystische Element des Glaubens angezogen wird; seine Antwort: «Aufklärung und Mystik – geöffnete Augen und geschlossene – bilden für mich keinen Widerspruch. Sie verhalten sich zueinander wie Einatmen und Ausatmen. Ich würde für mich aber nicht das mystische Moment in Anspruch nehmen. Ich bin nicht einer, der hinsitzt und meditiert. Das habe ich früher gemacht. Je älter ich werde, umso dankbarer bin ich, dass es diesen Skandal namens Aufklärung gab, als ungemein widersprüchliches Gebilde.» Und kommt noch einmal zurück auf das christliche Gebot der Feindesliebe, das für ihn gerade zum Toleranzgedanken der Aufklärung führte: «Ich entdecke eben im Toleranzgebot […] das Moment der Feindesliebe, etwas, was schon im Evangelium angelegt ist: die Perspektive des andern.»

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Datum: 08.03.2017
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet / Tagesanzeiger

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