Wer steckt hinter dem Terrorkampf der Tschetschenen?

Moskau. Die dramatische Geiselnahme durch "Heilige Krieger" aus Tschetschenien und jetzt der islamisch verbrämte Widerstand gegen Putins Vergeltungsoffensive am Kaukasus erinnern die Welt daran, dass ein politisch militanter Islam nicht nur im Heiligen Land, in Algerien und Oberägypten oder auf den Inseln Indonesiens und der Philippinen, sondern gerade in der ehemaligen Sowjetunion aufbegehrt.

Die Völker des Kaukasus standen schon einmal - und das gut ein Jahrtausend - unter islamischer Herrschaft der Araber, Perser und Türken; nur Georgien erhielt sich die alte Unabhängigkeit und mit ihr den christlichen Glauben byzantinisch-orthodoxer Prägung. Als Reste des grossen jüdischen Missionswerkes unter den osteuropäischen Chasaren in nachbiblischer Zeit waren im kaukasischen Raum auch die sogenannten "Bergjuden" übrig geblieben.

Islamische Theokratie im 19. Jahrhundert

Bei den Tschetschenen hatte - wie bei den westkaukasischen Tscherkessen und Abchasen - der Islam nie tiefe Wurzeln geschlagen. Letztere wurden erst wirklich gläubige und praktizierende Muslime, nachdem sie im 19. Jahrhundert der Sultan angesichts der russischen Expansion nach Transkaukasien "heim ins Reich" holte und sie als Wehrbauern im heutigen Syrien und Jordanien ansiedelte. Im nördlichen Kaukasus hingegen organisierte die Derwischbruderschaft der "Nakschbandi" bewaffneten Widerstand gegen die vordringenden Truppen des Zaren. Wer sich nun endlich strikt an die Satzungen des islamischen Gesetzes hielt, dem wurde der Sieg oder zumindest das Paradies der im Kampf gefallenen islamischen Glaubensstreiter verheissen.

Im Zug dieser ersten regelrechten Re-Islamisierung entstand im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts eine islamische Theokratie (Glaubensstaat), das "Imamat". Es umfasste praktisch das ganze heutige Tschetschenien und das östlich davon am Kaspischen Meer liegende Dagestan, zu Deutsch das "Land der Berge". Exponent des Imamats wurde der Kriegsherr Schamil, den Karl Marx als "Garibaldi des Kaukasus" gefeiert hat. Schamil, der für sich ausdrücklich den Status eines Heiligen Kriegers Allahs (Mucahit) in Anspruch nahm, konnte den Russen 33 Jahre lang Widerstand leisten. 1859 wurde er jedoch gefangen und ergab sich als traditioneller Muslim fatalistisch in dieses Schicksal. Er wurde bis an sein Lebensende in ehrenvoller Haft gehalten. Er half den Russen sogar, sein Volk mit Hilfe der friedlicheren Derwische vom Orden der Kadiria "umzuerziehen". Stalin waren die Tschetschenen aber nicht umerzogen genug, so dass er sie 1944 nach Zentralasien aussiedelte. Von dort durften sie erst unter Chruschtschew 1957 heimkehren.

Nach dem Vorbild der Geiselnahme von 1995

Darauf hielten sich die noch in der Verbannung geborenen Tschetschenen weiter an ihre liberalere religiöse Schule. Die junge Generation suchte aber wieder nach einem radikalen Islam und erblickte nach 1991 in der Unabhängigkeitserklärung Tschetscheniens die Wiedergeburt des alten Imamats. Bald nach Beginn von Jelzins Feldzug gegen die Tschetschenen im Spätherbst 1994 erhielten diese Verstärkung durch den aus Jordanien stammenden Tscherkessen Amir Chattab, der an der Spitze fundamentalistischer Kämpfer aus Afghanistan und Tadschikistan eintraf.

Auf seine Seite schlug sich der früher erklärt kommunistische, exsowjetische General Bassajew, der ostentativ den Vornamen "Schamil" annahm. Er überfiel im Juni 1995 ein südrussisches Spital und nahm dort hunderte Geiseln, um Moskau den Abzug vom "islamischen Kaukasus" abzuzwingen. Diese erste tschetschenische Geiselnahme grossen Stils ist jetzt wieder bei der Besetzung des Musical-Theaters in Moskau Pate gestanden, durch die Jelzin zur Beendigung seines zweiten Tschetschenienkrieges erpresst werden sollte.

Ausgangspunkt Saudiarabien

Diese heutige, zweite Re-Islamisierung am Kaukasus geht vom saudiarabischen Wahhabitentum aus. Es handelt sich dabei um die rigoroseste, besonders christen- und judenfeindliche Richtung des Islam. Sie ist schon seit dem 18. Jahrhundert Staatsdoktrin Saudiarabiens und hat nach dessen Eroberung der heiligen Muslimstadt Mekka vor achtzig Jahren Weltgeltung erlangt. Nicht zuletzt dank des Erdöl- und Petrodollarreichtums der Saudis. Als Verbündete der USA wurde ihnen lange ihr militanter Wahhabismus nachgesehen oder völlig übersehen. Seit dem Saudimilliardär Ben Laden, den wahhabitischen Taliban in Afghanistan und der heutigen Wahhabitenrenaissance am Kaukasus entlarvt sich aber langsam Saudiarabiens hintergründige Gefährlichkeit.

Datum: 04.11.2002
Quelle: KIPA

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