Treibstoff für die Seele - im Vorbeifahren

Was drängt die Leute bloss auf die Autobahnraststätten? Ob Donnerstagabend um neun oder Sonntagnachmittag um vier: die Parkplätze sind fast immer zur Hälfte belegt. Dutzende, Hunderte von Autos also. Alles nur, um sich mit "Reisebedarf" einzudecken? Ja, vielleicht. Aber Reisebedarf für die Seele.
Parkplatz
Marktstand in der Autobahnraststätte Würenlos - alles nur Reiseproviant?
Bei einem Buffet wie hier an der Raststätte Bellinzona vergisst der Autofahrer die Zeit.
Die Bahnhofskirche Zürich richtet Weg-Worte an die Reisenden.

Das ginge doch auch an den normalen Tankstellen: Schnell noch ein Scheibenwaschenmittel oder einen Kaugummi. Aber eine Uhr für 239 Franken, Kleider für den Abend, Kinderspielsachen? Man könnte doch genausogut bei der nächsten Ausfahrt 'rausfahren, in einem gewöhnlichen Supermarkt einkaufen oder in einem herkömmlichen Restaurant essen gehen, und erst noch billiger. Der weiteste Abstand zwischen zwei Ausfahrten in der Schweiz dürfte auf der E60 zwischen Rheinfelden und Eiken liegen: blosse 14 Kilometer, also keine 10 Fahrminuten. "Shoppen" geht man aber immer mehr an der Autobahn.Die Nachfrage besteht. Aber warum? Offenbar haben die Läden und Gaststätten dort einen ganz besonderen Stellenwert.

Als die "DDR" aufging (oder zuging, je nachdem), wurden im Westen bald Pläne für neue West-Ost-Autobahnen aus der Schublade geholt, und auch die bestehenden sollten ausgebaut werden. Doch lange vor den Teermaschinen kamen die Bagger und Kranen - für neue Raststätten. Dabei sind Autobahn eigentlich gebaut worden, um möglichst zügig voranzukommen. Da werden also zig-Millionen Franken pro Kilometer verlocht, und an der nächsten Raststätte macht man den erfahrenen Zeitgewinn gleich wieder mehr als wett. Mit Vernunft hat das nicht mehr viel zu tun. Es muss etwas anderes dahinterstecken, eine Kraft, der viele Autofahrerseelen einfach erliegen.

Im blechernen Exil

Wir kommen ihr vielleicht auf die Spur, indem wir uns genauer anschauen, in welcher Verfassung der Autofahrer unterwegs ist. Er hat den einen Ort hinter sich, den anderen noch vor sich. Mit den Erfahrungen vor dem Losfahren hat er gewissermassen abgeschlossen, die neuen stehen ihm noch bevor. Daheim ist er aufgebrochen, bei der Gastfamilie oder im Büro ist er noch nicht angekommen. Jeder Fahrer hat da seine eigene Geschichte. Aber um die geht es auf der Autobahn nun gerade nicht, jetzt, in diesen Minuten dazwischen. Die ist jetzt weggesperrt, draussen gelassen, draussen vor der Autotür. Der Auspuff röhrte einen letzten verächtlichen Gruss. Und was auf diesen Menschen wartet, wenn er ankommt, das muss ihn jetzt noch nicht belasten. Er befindet sich in seinem Exil, dem blechernen. Seine Seele ist in einem Ausnahmezustand; herausgenommen aus dem, was sie beruflich oder privat in irgendeiner Form einengt hat und wieder in Beschlag nehmen wird. Sie steht darüber, über allen Dingen.

Den Ausnahmezustand verlängern

Das könnte den unausgesprochenen Lockruf der Raststätten ausmachen: "Komm, verlänger' dir doch diese Zeit der Erhabenheit! Gönn dir eine längere Schonfrist bis zu deiner nächsten Rolle am Zielort!" In der Zwischen-Zeit hat er keine Rolle, steckt er in keinem freud- oder leidvollen Miteinander. Sondern der Autofahrer ist - er selber. Das will er auskosten. Da ginge es also gar nicht so sehr ums Benzin, sondern um Treibstoff für die Seele, um willkommene kleine Erholungen im wohligen Ausnahmezustand des Unterwegsseins. Aller merkantile Flunker ist nur vordergründig. Von weiter hinten verheisst es Genugtuung, wenn man sich dieses selige Interim um eine halbe Stunde verlängert.

Wo sind dem Menschen denn heute noch solche Erfahrungen vergönnt? Am ehesten in der Sexualität und in der Musik. Auch noch bezeichnend, dass diese Gebiete ebenfalls so wichtig, scheinbar allmächtig und allgegenwärtig geworden sind wie die Autobahnen. Zwischendurch will der Mensch offenbar über seinen Funktionen stehen.

Tankstellen für den ganzen Menschen

Eine moderne Erscheinung der Stresskompensation? Vielleicht. Das Anliegen selber ist jedenfalls alt. Denn genau für diese Erhabenheit dazwischen gibt es den Sonntag und gäbe es Gottesdienste, begangen als wöchentliche Höhen zwischen den mit Familie und Arbeit angefüllten Werktagen. Die Seele verabschiedet sich auch dort für eine kurze Zeit von allen ihren Funktionen, und der Mensch schaut herab auf seine Rollen, kritisch, vielleicht erschrocken, hoffentlich aber getröstet. Und so gestärkt, bricht er auf in die vor ihm liegende Woche. Wie der Autofahrer von seinem Parkplatz ...
Und wenn nun Raststätte und Gottesdienst zusammenfänden? Christliche Besinnungsräume und Andachtsstunden an den Raststätten, in den Raststätten selber? Den Sonntag in den Werktag holen. Der Sonntag wird kaum mehr "geheiligt". Sollten wir dann nicht umso mehr die Werktage heiligen?

Eine Bahnhofskirche in Zürich beschreitet diesen Weg. "Der Seele Raum geben - und weitergehen", heisst es auf einem ihrer Handzettel, und " Weg-Worte" nennen sich die Kurzandachten, die dort gehalten und schriftlich abgegeben werden. Man kommt unerkannt und geht ungenannt, und die Anliegenbücher, in denen man sich seinen Kummer vom Herzen schreiben kann, sind sehr beliebt. Fast die Hälfte der Besucher sind Männer. In welcher anderen Kirche gibt's das?

An welcher Raststätte gibt es das? Anonyme kleine Andachtsräume, links davon vielleicht ein Restaurant, rechts eine Parfümerie, geführt von Leuten, die doppelt hören gelernt haben: auf die Nöte und Seelenlagen ihrer Zeitgenossen und auf einen Gott, der uns überraschend nahe sein will. "Und das Wort wurde Mensch und zeltete unter uns", heisst es von Jesus in einer wörtlichen Übersetzung von Johannes 1,14. Schlagen wir es neu auf.

Datum: 08.07.2002
Quelle: Livenet.ch

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