Viel Sonne in Hannover: Ein „frömmerer“ Kirchentag

Margot Kässmann
Kirchentag

Margot Kässmann, die Bischöfin der gastgebenden Hannoverschen Landeskirche, wollte den Kirchentag als „Sprachschule des Glaubens“ sehen. Und der EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber sprach von einem „neuen Hunger nach Glaubenswissen wie nach gefeierter Religiosität“. Der 30. evangelische Kirchentag in Hannover bot alle diese Facetten – und viele mehr.

Berlin liess grüssen und sandte seine Prominenz. Doch so viele politische Signale auch zum Beginn des Bundestags-Wahlkampfs gesetzt wurden – die Grossveranstaltung drehte sich um (noch ernstere) kirchliche Fragen.

Das Motto "Wenn dein Kind dich morgen fragt . . ." konfrontierte die Teilnehmenden mit der unsicheren Zukunftsfähigkeit des Glaubens in Deutschland: Leben wir so, dass unsere Kinder uns nach unserem Glauben fragen?

Mutterland des Protestantismus – Epizentrum der europäischen Sinnkrise?

Ein gutes Tausend hörte der Bibelarbeit Angela Merkels zum Propheten Maleachi zu. Ob der Verzicht auf den Gottesbezug in der EU-Verfassung nicht auch Anzeichen einer "tiefen Sinnkrise" sei, suchte sie die alte prophetische Anklage zu aktualisieren.

Am meisten Applaus erhielt Merkel mit dem Appell, den Protestantismus - "diese ziemlich freie, bindungslose Veranstaltung" – etwas freudiger zu gestalten. In einer Diskussion mit SPD-Chef Franz Müntefering erklärte Merkel, die EU habe in absehbarer Zeit keine Integrationskraft, um die Türkei aufzunehmen.

Tut mehr für Kinder!

In vielen Diskussionen wurde eine kinderfreundlichere Gesellschaft gefordert, auch die tiefe Geburtenrate beklagt. Erstmals gab es ein Zentrum für Kinder zum Spielen und Basteln. Starken Zulauf hatten auch Bibelarbeiten und spirituelle Angebote. Bei einer "Langen Nacht der Kirchen" standen mehr als 90 Gotteshäuser der Stadt offen.

Bischöfin Margot Kässmann bezeichnete es als den wichtigsten Impuls aus Hannover, sprachfähig zu werden, den Glauben weiterzugeben, über den Glauben selbst zu reden. Am Forum "Welche Zukunft hat die Gemeinde?" nahmen am Freitag über 6’000 Menschen teil.

„Fantasie des Glaubens“

Am Donnerstag verlieh die Arbeitsgemeinschaft Missionarischer Dienste (AMD) auf dem Kirchentag den Förderpreis „Fantasie des Glaubens“. Den ersten Platz belegte die Evangelische Jugend aus Eisleben mit ihrem Projekt „180°“.

Teenagern werden nach ihrer Konfirmation gabenorientierte Aufgaben angeboten, so dass sie ihrer Gemeinde auch auf längere Zeit erhalten bleiben. Aus dem Projekt, welches seit August 2004 in sechs Kirchengemeinden in Eisleben und Umgebung läuft, haben sich bereits zwei Bands, ein Orgateam und ein Team für Kinderarbeit gebildet. Der EKD-Ratsvorsitzende Huber war des Lobes voll für jene, die neue Wege für das Weitersagen des Evangeliums suchten.

Weizsäcker gegen EU-Agrarsubventionen

Interessierte und kritische Zuhörer fanden Politiker wie Altbundespräsident Richard von Weizsäcker, der vor einer Ruhepause in der europäischen Einigung warnte. In einer zusammenwachsenden Welt mit globalen Herausforderungen gebe es keine Pausen, sagte von Weizsäcker. Und: "Der Kampf gegen Terrorismus kann nur gelingen, wenn wir der Not auf der Welt Herr werden."

Weizsäcker rügte die Praxis der Agrarsubventionen der Industriestaaten. Ohne diese staatlichen Hilfen wären viele europäische Agrarerzeugnisse zu Herstellungskosten nicht absetzbar. Für die Agrarhilfen würde sechs Mal mehr ausgegeben als für die Hilfen an die Entwicklungsländer.

Kässmann gegen Sozialdumping

Die Kapitalismusdebatte der vergangenen Wochen wurde wieder aufgegriffen. Bischöfin Margot Kässmann verurteilte in scharfer Form Sozialdumping und rücksichtsloses Gewinnstreben. Sie kritisierte deutsche Unternehmer, die ihre Produktion wegen niedriger Löhne ins Ausland verlagern. Eine Halle war der Globalisierungsdiskussion gewidmet.

In der Ökumene immer weiter gehen

An den mehr als 2500 Veranstaltungen von Mittwoch bis Samstag nahmen mehr als 105’000 Dauerbesucher und viele tausend Tagesgäste teil. Im Schlussgottesdienst am Sonntagmorgen äusserte Kirchentagspräsident Eckhard Nagel, Kirche müsse wieder politischer werden, wenn es darum gehe, christliche Wertüberzeugung im Alltag zu leben. «Ihr alle seid ein Signal der Hoffnung», rief er den Gläubigen zu.

Zuvor hatten führende Vertreter der beiden grossen Kirchen weitere Schritte in der Ökumene befürwortet. Kardinal Karl Lehmann, der Vorsitzende der Bischofskonferenz, und Bischof Huber ermunterten zu weiterer Sacharbeit und mahnten zu Geduld.

Fliege gegen den Trend

Der evangelische Pfarrer und TV-Moderator Jürgen Fliege stellte zentrale Inhalte des christlichen Glaubens in Frage. Christen könnten ohne die alte Lehre vom Opfertod Jesu am Kreuz leben. Nicht das Blut Jesu, sondern seine Lebensbejahung solle im Mittelpunkt stehen, sagte Fliege.

Der Auftritt des Fernsehpfarrers im Themenbereich "Spiritualität" des Kirchentags war im Vorfeld heftig umstritten. Der Theologe warf den Kirchen vor, an den Bedürfnissen der Menschen vorbeizureden. Es gelinge ihnen nicht, die "Herzen der Menschen zu erreichen." Die Leute seien nicht der Religion überdrüssig, sondern der veralteten Sprache und den Ansprüchen der Kirche. Deutschland bleibe das schwierigste Missionsland der Welt.

Comeback des Glaubens?

Der EKD-Ratsvorsitzende Huber hatte Fliege zuvor wegen seiner umstrittenen Aussagen indirekt kritisiert. Huber warnte davor, zu Gunsten einer verständlichen Sprache alle vermeintlich sperrigen Glaubensaussagen aufzugeben. Denn – so Huber in seiner Halbzeitbilanz nach einer Formulierung im TV-Kommentar – „der Glaube erlebt ein Comback“.

www.kirchentag.de
www.epd.de

Quelle: Livenet/diverse

Datum: 31.05.2005
Autor: Peter Schmid

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