Erwachsene Kinder

Ehre, wem Ehre gebührt

Die Herausforderung im Spannungsfeld von alten Eltern und erwachsenen Kindern, hat in Kulturen mit jüdisch-christlichen Wurzeln einen unmittelbaren Bezug zum fünften Gebot: «Ehre Vater und Mutter, auf dass du lange lebst in dem Land, das dir der Herr, dein Gott, gibt.»
Der Umgang zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern ist oft ein Spannungsfeld.
Heinrich Bolleter

Lange wurde das Elterngebot in unserer Kultur als Disziplinierungsmittel für Kinder eingesetzt. Viele ältere Menschen kennen es daher als Anspruch, der von den Müttern und Vätern ausgeht. Dieser Anspruch kann für die Kinder zu einer Belastung werden, die das alltägliche Leben ständig überschattet. Wenn wir die Wirkungsgeschichte des Gebotes betrachten, stellen wir fest, dass es schon im Alten Testament in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Auswirkungen gezeitigt hat.

Altes Testament: Respekt und fürsorgliche Liebe

Das Gebot wurde dem Volk Israel während der Wüstenwanderung gegeben (2.Mose, Kapitel 20, Vers 12). Es war ein Auftrag an die Israeliten, die in der Mitte des Lebens stehen. Sie sollen ihren Eltern helfen, die Tage und Jahre der beschwerlichen Wanderung zu bestehen und das Ziel des verheissenen Landes zu erreichen. Das Deuteronomium (5.Mose, Kapitel 5, Vers 16) führt uns in die Zeit des Exils in Babylon. Im Exil musste das Bundesvolk darum ringen, seine eigene Identität zu bewahren. Dabei ging es im neuen Kontext um drei Motive: Erstens um Respekt und Würde, weil die Eltern die Vermittler des Glaubens und der göttlichen Verheissungen waren. Es ging zweitens darum, im Exil die Autorität der Eltern zu stärken. Drittens ging es erneut um praktische Hilfeleistung für die Hochbetagten im fremden Land.

Zusammenfassend ist über das Elterngebot im Alten Testament zu sagen, dass ein erwachsenes Mitglied des Bundesvolkes seinen alt werdenden oder alt gewordenen Eltern mit Respekt und fürsorglicher Liebe begegnen soll. Damals geschah dies in erster Linie durch die materielle Versorgung. Jedoch wird auch Rücksichtnahme auf die Abnahme ihrer Schaffenskraft und Geisteskraft gefordert. Sie haben ein Recht auf ein würdiges Leben und auf ein ehrenvolles Begräbnis.

Neues Testament: gegenseitige Wertschätzung

Im Neuen Testament finden wir Bezüge zum Elterngebot vorwiegend im Zusammenhang der «Familie». Allerdings suchen wir diesen lateinischen Begriff in der Bibel vergebens. Er ist erst im späten 16. Jahrhundert in die deutsche Sprache eingeflossen. In biblischer Zeit sprach man vom «Haus». Zu diesem gehörten die lebenden Generationen einer Familie, aber ebenso die Knechte und Mägde. In dieser Lebens-, Wohn- und Arbeitsgemeinschaft gab es Geborgenheit und fand man sein Recht.

Mit der Ankündigung des Reiches Gottes durch Jesus wurde die Familienbindung relativiert. In verschiedenen Worten über die Nachfolge hatte Jesus die Ansprüche der Familie zurückgesetzt (Matthäus, Kapitel 10, Vers 37; Lukas, Kapitel 9, Vers 59ff). Der Anspruch des Reiches Gottes macht aus den Ansprüchen der Familie eine vorletzte Grösse (Markus, Kapitel 3, Vers 31ff).

So verstanden sich die ersten Gemeinden wie eine «Familie» von Schwestern und Brüdern und als «Kinder Gottes». Vielleicht ist hier die Anmerkung erlaubt, dass Eltern und Kinder im christlichen Glauben einander eher auf Augenhöhe in gegenseitiger Wertschätzung begegnen sollen, weil sie sich gegenseitig als Kinder Gottes sehen.

Biblische Wegmarken

Das Familienbild in biblischen Zeiten und die Schweizer Familienrealität heute sind nicht deckungsgleich. Was sind nun aber die biblischen Wegmarken für unseren Weg in die Zukunft?

  1. Im Alten Testament stossen wir auf einen pragmatischen Ansatz der Auslegung des Elterngebots. Die Wirkungsgeschichte, die wir ansatzweise aufgezeigt haben, weist auf eine Flexibilität, die den Sitz im Leben mit einbezieht. Der cantus firmus ist die Aufforderung «Ehre Vater und Mutter» als fürsorgliche Wertschätzung durch die erwachsenen Söhne, als Respekt, motiviert durch Liebe und Vertrauen.
    Im Neuen Testament entdecken wir die Relativierung der patriarchalischen Vorstellungen von Unterordnung und eine moderate Anpassung an ein neues christliches Familienbild.
  2. Die persönliche Sorge um die alt gewordenen Eltern wird vom 5. Gebot her im jüdisch-christlichen Umfeld klar erwartet. Jedoch soll sie auf Augenhöhe und in gegenseitiger Wertschätzung geschehen. Erwartungen von Seiten der Eltern müssen realitätsbezogen sein, und die erwachsenen Kinder dürfen die Sorge um die Eltern nicht zur fürsorglichen Belagerung ausgestalten.
  3. Der moderne Generationenvertrag ersetzt weitgehend die direkte materielle Hilfe durch die Kinder. Ein erfülltes Dasein im Alter lebt aber nicht nur von der materiellen Sicherung, sondern von Wertschätzung, Respekt, Vertrauen und einem bewusst gemeinsamen Gestalten der familiären Beziehungen.
  4. Das Liebesgebot und die Goldene Regel in der Bergpredigt sind wegleitend in der Frage, wie wir die Eltern «ehren» sollen.
  5. Das Rollenbewusstsein der erwachsenen Söhne und Töchter, die für ihre alt gewordenen Eltern Sorge tragen, ist oft nicht durch Klarheit und Reife geprägt. Das neutestamentliche Verständnis, dass wir alle Kinder Gottes sind und unterwegs in sein Reich, kann uns helfen, einander auf Augenhöhe mit Respekt und Liebe zu begegnen. So pflegen wir eine Partnerschaft der Generationen.

Im Judentum sagten die weisen Chassidim: «Betrachte drei Dinge. Wisse, woher du kamst und wohin du gehst und vor wem du dich zu verantworten hast.» (M.Buber)

Der abgedruckte Text ist die stark gekürzte Fassung des Referats von Alt-Bischof Heinrich Bolleter. Das ganze Referat ist abrufbar unter www.heinrich-bolleter.net/predigten.

Datum: 30.07.2013
Autor: Heinrich Bolleter
Quelle: Kirche & Welt

Werbung
Livenet Service
Werbung