Kommentar

Die familienpolitische Wende fand nicht statt

Familienpolitische Wende

Vor fast 10 Jahren – im März 2001 – hat der Nationalrat an seiner denkwürdigen Session im Tessin zwei parlamentarische Initiativen gutgeheissen, die landesweit Ergänzungsleistungen für einkommensschwache Familien, analog zum Tessiner Modell sowie mehr Krippenplätze forderten. Die NZZ sprach von einem «Aufbruch zu neuen familienpolitischen Ufern».

Fast 10 Jahren nach diesem wegweisenden Entscheid ist klar, dass die neuen familienpolitischen Ufer noch in weiter Ferne liegen. Obwohl die Eidgenössische Kommission für Familienfragen (EKFF) die Ergänzungsleistungen für Familien immer wieder auf die politische Traktandenliste setzte, ist bis heute nichts daraus geworden. Heute sperrt sich die Wirtschaft mehr denn je gegen ein stärkeres finanzielles Engagement des Bundes zugunsten der Familien, wie unlängst an einer Tagung der Schweizerischen Akademie für Geistes- und Sozialwissenschaften über «Generationenpolitik» in der Schweiz deutlich wurde.

Mehr Glück hatte die zweite, damals im Tessin von Lucrezia Meier-Schatz und Jacqueline Fehr vorgebrachte Forderung: eine Anstossfinanzierung für mehr Krippenplätze im Betrag von 100 Millionen Franken pro Jahr. Zwar wurde in der Folge die Summe kräftig reduziert, aber die Forderung lag auf der Linie und im Interesse der Wirtschaft, denn zusätzliche Krippen erleichtern den Müttern die Aufnahme einer Erwerbsarbeit. Der Gedanke der «Vereinbarkeit von Familie und Beruf» ist seither auch zum Leitmotiv der Schweizer «Familienpolitik» geworden, wenn man überhaupt von einer solchen reden kann.

Denn «Familienpolitik» ist in der Schweiz massiv von den Interessen der Wirtschaft und von rechtsbürgerlichen Kreisen, die eine Reduktion der Staatsquote fordern, gesteuert. In den 10 Jahren seit der Tessiner Session wurde die Mutterschaftsversicherung – gegen starken Widerstand der Wirtschaft – beschlossen. Die Wirtschaft mauerte, obwohl nur erwerbstätige Frauen profitieren und die Versicherung von der Erwerbsersatz-Versicherung (EO) finanziert wird, sodass der Bundeshaushalt (und die Wirtschaft) geschont wurden. Die von den beiden Räten 2009 beschlossene Familiensteuerreform kam Dank den Kreisen zustande, die für jede Steuersenkung zu haben sind, sie kommt vor allem Familien mit hohen Einkommen zugute. Steuerermässigungen für Familien haben auch mehrere Kantone beschlossen.

Eine kleine Verbesserung für einkommensschwache Familien brachte lediglich die Harmonisierung der Kinderzulagen mit Mindestbeträgen von 200 Franken bzw. 250 Franken für Jugendliche in Ausbildung. Allerdings haben mehrere Kantone zum Zeitpunkt der Einführung höhere Kinderzulagen ausgerichtet. Von einer familienpolitischen Wende, wie man vor 10 Jahren hoffte, kann daher in der Schweiz keine Rede sein. Auch mit der demografischen Krise hat man sich weithin abgefunden. Noch pflegen viele die Illusion, man könne sich zukünftig «Humankapital» jederzeit aus dem Ausland holen.
 

Datum: 18.12.2010
Autor: Fritz Imhof
Quelle: SSF

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