Weg aus der Blockade

Generationenpolitik statt Familienpolitik

Die Familienpolitik ist heute durch gegensätzliche politische Positionen blockiert, Das stellten die Organisatoren der Tagung «Auf dem Weg zu einer Generationenpolitik» am 18. November in Bern fest. Sie setzen daher neu auf «Generationenpolitik». Doch die Wirtschaft mauert.
Familie
«Sozialstaatliche Sicherungen tragen zur Stärkung der familiären Beziehungen bei»: Kurt Lüscher. (Foto: Fritz Imhof)

«Am Anfang meiner Amtszeit stand der Brückenschlag zwischen den Generationen – am Schluss immer noch», sagte Nationalratspräsidentin Pascale Bruderer bei der Eröffnung der Tagung. Sie arbeitet darauf hin, dass es «von der gesellschaftlichen Debatte zur politischen kommt». In der von der Schweizerischen Akademie für Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) organisierten Tagung bekannte sich die Nationalratspräsidentin zu den Zielen des Anlasses. Sie ist selbst Mitinitiantin der Webseite www.generationen.ch.

Reformbedarf der sozialen Sicherungssysteme

Der Generalsekretär der SAGW, Markus Zürcher, ortete einen Reformbedarf für die sozialen Sicherungssysteme der Schweiz. Verursacht werde er durch zunehmende Finanzierungsprobleme, den demografischen Wandel sowie die veränderten Lebensformen und die damit verbundenen Risiken. Die Finanzierungsfrage sei dabei untergeordnet, ist Zürcher überzeugt. Die Prognosen der Vergangenheit seien bezüglich AHV immer zu pessimistisch ausgefallen. Thematisiert werden müsse aber die Schaffung von Humanvermögen sowie die Teilhabe aller am sozialen Leben. Eines der wichtigsten Ziele bleibe die bessere Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben.

Eine Leitidee für die sozialpolitische Agenda

Für die sozialpolitische Agenda braucht es laut Zürcher dringend eine neue Leitidee. Als Themen für Reformen nannte er Ergänzungsleistungen für Familien, eine Pflegekostenversicherung, einen Verfassungsartikel für die Familienpolitik, ein Sicherungssystem für Langzeitarbeitslose, eine Elternzeit sowie eine Neugestaltung der AHV-Berechtigung. Ausserdem müsse die enge Verquickung von Erwerbsarbeit und Sozialleistungen gelockert werden, sagte Zürcher. Reproduktions- und Familienarbeit müssten den gleichen Wert erhalten wie die Erwerbsarbeit.

Verbreitetes Vorurteil entkräftet

Der Soziologe und Familienwissenschafter Kurt Lüscher trat einem verbreiteten Vorurteil entgegen, als er feststellte: Sozialstaatliche Sicherungen tragen zur Stärkung der familiären Beziehungen bei, sie schwächen sie nicht. Er warnte andererseits vor einer «Idealisierung der Generationensolidarität». Diese funktioniere nicht in allen Familien gleich gut – aus verschiedensten Gründen wie zum Beispiel der heutigen Mobilität. Dennoch sprach er sich dafür aus, Verantwortlichkeit und Uneigennützigkeit im Dienst aneinander sowie die Eigenverantwortung zu fördern. Verantwortung müssten aber auch Kirchen, Wirtschaft und private Institutionen übernehmen. Er sprach von einem Generationen-Dialog, der auch eine Bildungsrevolution beinhalten müsse – Bildung bis ins hohe Alter. In der Politik sei eine Generationenverträglchkeits-Prüfung einzufordern.

Im Blick auf die Pflege der alten Menschen sprach sich Lüscher für eine grössere Bedeutung des Zivildienstes aus. Im Blick auf die AHV mahnte er an, ihre Leistungen mit der Bereitschaft zur Elternschaft zu verbinden.

Noch viele Hindernisse

In den Diskussionsbeiträgen wurde deutlich, dass einem Ausbau der Generationenpolitik noch viele Hindernisse im Wege stehen. Der Sozialpolitiker Professor Giuliano Bonoli (Lausanne) unterstützt die Rückführung von möglichst vielen Sozialversicherungsbezügern in den Arbeitsmarkt. Die St. Galler Wirtchaftsprofessorin Monika Bütler sprach einer radikalen Vereinfachung der heutigen „Transfer- und Verteilpolitik“ das Wort und kritisierte, für viele Bezüger seien die Anreize falsch gestellt. Sie belasteten die Familien und den Mittelstand. Bütler forderte flächendeckende Tagesschulen und Steuerentlastungen für Zweitverdiener.

Die Zukunft der Kinder

Heidi Stutz, leitende Mitarbeiterin des Büro BASS, forderte auf, die Leistungen des „familiären Systems“ zu erfassen und zu bewerten. Familien brauchten immer Zeit UND Geld. Insbesondere sei auch auf die Betreuungsqualität für die Kinder zu achten und nicht einseitig die Erwerbstätigkeit beider Eltern zu favorisieren. «Es geht um die Zukunft der Kinder», betonte sie. Noch wichtiger als die Teilhabe an der Erwerbstätigkeit für Väter und Mütter sei der Zugang zur Bildung, die unabhängig von familiären Verpflichtungen gewährleistet sein müsse.

Sozialkonservative Wirtschaftsvertreter

Vertreter des Arbeitgeberverbandes und von Avenir Suisse wehrten sich gegen höhere Sozialleistungen des Staates. Sie sangen das Lied von der bedrohten Konkurrenzfähigkeit der Schweizer Wirtschaft und des Staatshaushalts. Professor Rudolf Minsch, Chefökonom von Economiesuisse, forderte sogar eine Schuldenbremse für die Sozialversicherungen, die Pensionskassen und das Gesundheitswesen. Sie verhinderten damit einen konstruktiven Dialog zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik.

Einen interessanten Denkansatz präsentierte dagegen Beat Ringger, geschäftsführender Sekretär des sozialkritischen Thinktanks «Denknetz Schweiz». Das Denknetz hat ausgerechnet, dass der Produktivitätsfortschritt der Schweizer Wirtschaft genügend Mittel schaffen würde, um eine Elternzeit von 24 Wochen pro Kind sowie eine bezahlte Erwerbsausfallzeit von insgesamt 2 Jahren für alle Arbeitenden zu finanzieren. So könnte das Geld, das heute in die Finanzmärkte fliesst und dort immer wieder für Spekulationsblasen führt, «von der destruktiven Zone in die Zone der Nützlichkeit» überführt werden. Es geht um einen Betrag von 25 Mia. Franken pro Jahr, der sinnvoll für die Gesellschaft eingesetzt werden könnte.

Auf der Linie der Städteinitiative Sozialpolitik

Ein interessantes Beispiel, wie Generationenpolitik schon heute umgesetzt werden kann, gab die Berner Gemeinderätin Edith Olibet. Sie erläuterte die Arbeitsweise der Städteinitiative Sozialpolitik, welche einerseits auf die Stärkung schwacher Familien, die Vereinbarkeit von Familienarbeit und Beruf oder die Motivierung zur Freiwilligenarbeit zielt. Sie versucht zudem, die vorhandenen Beziehungen zwischen den Generationen zu stärken. Gefördert wird auch die Beziehung zwischen Generationen, wo dies innerfamiliär nicht (mehr) möglich ist. Olibet ist im Gegensatz zu den Wirtschaftsvertretern überzeugt, dass der Begriff Generationenpolitik nützlich ist, um politische Durchbrüche zu erzielen. Zudem sei er geeignet, die Solidarität zwischen den Generationen zu fördern.
 

Datum: 29.11.2010
Autor: Fritz Imhof

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