Wahrnehmungsstörung

Wir brauchen ein «Reset» für unser Denken beim Thema Sex

Sexualität gehört zum Gesamtpaket der Schöpfung, der Gott seinen Stempel «sehr gut» aufgedrückt hat. Seltsamerweise klang und klingt das meiste, was Christen zum Sex sagen, allerdings eher nach Sünde und Problemen. Unser Denken braucht deshalb an dieser Stelle ein «Reset», ein Zurückstellen auf den Anfangszustand – findet Hauke Burgarth.
Lächelndes Paar im Bett unter Decke
Redaktor Hauke Burgarth
Küssen

Wie hat es die Kirche eigentlich geschafft, etwas, das in der Bibel explizit als «sehr gut» bezeichnet wird, als «schwierig» bis «schmutzig» darzustellen? Der reformierte Pastor Mark Sandlin beleuchtet in seinem Blog die kirchengeschichtliche Entwicklung dahin.

Augustinus & Co

Den einzelnen Schuldigen an dieser christlichen Wahrnehmungsstörung in Bezug auf Sex gibt es nicht, allerdings spielt Augustinus, der frühkirchliche Theologe und Bischof von Hippo, eine entscheidende Rolle dabei. Er selbst hatte erhebliche Probleme mit seinem Sexualtrieb. Wechselnde Beziehungen zu vielen Frauen und auch Männern bestimmten die Zeit vor seiner Bekehrung. Schliesslich gelobte er, zölibatär zu leben und verkündete von da an die Sündigkeit des unkontrollierbaren «Fleisches». Damit bestimmte der Kirchenlehrer die Beurteilung von Sex vom vierten Jahrhundert bis heute massgeblich. Augustinus entwickelte zahlreiche abstruse Vorstellungen zur Sexualität: So sollte die Erbsünde durch Geschlechtsverkehr weitergegeben werden. Jegliche sexuelle Lust sollte sündig sein und soweit möglich vermieden werden. Sex sollte nicht nur auf die Ehe beschränkt sein, sondern ausschliesslich der Fortpflanzung dienen. Lust? Freude? Gottgewollte Intimität? Fehlanzeige! Doch so abstrus sich diese Forderungen anhören, bis heute haben Kirchen und Gemeinden einen grossen Teil davon verinnerlicht – und geben das auch so weiter.

Neustart nötig

Durch ihre Ansichten zu Themen wie Geschlechtlichkeit, Selbstbefriedigung, vorehelichem Geschlechtsverkehr oder Homosexualität hat die Kirche vielfach dazu beigetragen, die ausgesprochen gute Schöpfung der Sexualität in etwas Sündiges, Schuldbeladenes und Peinliches zu verwandeln. Damit hat sie einen bedeutenden Teil des Menschseins in etwas verwandelt, das Menschen verletzt und verhindert, dass sie ihre eigentliche Identität finden und leben können. Natürliche Wünsche werden hier zu sündigem Tun erklärt. Dieses Denken prägt natürlich nicht jede Kirche und Gemeinde, doch es ist weit verbreitet. Debra Hirsch unterstreicht in ihrem Buch «Redeeming Sex» (Den Sex befreien/Befreiender Sex): «Durch das Verknüpfen von Sexualität mit Angst, Scham und Schuld haben wir nicht nur Gottes Gnadengeschenk verunreinigt, wir haben seine Menschen gefangen.»

Ganzheitlicher Sex

Hirsch bemängelt in ihrem Buch, dass die Kirche Sex oft auf den rein körperlichen Geschlechtsakt reduziert und keine Beziehung zur geistlichen oder verstandesmässigen Ebene sieht. Diese Trennung simplifiziert Sexualität auf eine ungute Weise. In gewisser Weise haben die Angst, Scham und Schuld, die das Christentum mit Sex verknüpft hat, ihre Wurzeln in genau dieser Vereinfachung. Das Gegenmittel ist daher eine ganzheitliche Sichtweise der Sexualität – ihre positive Grundausrichtung, ihre geistliche Bedeutung, ihr gesunder Einfluss auf unser gesamtes Leben.

Was sagt die Bibel?

Durch tendenziell prüde Missverständnisse der Kirche zum Thema Sex haben wir viele «Erkenntnisse» gewonnen, die wir auch dann in der Bibel entdecken, wenn sie gar nicht dastehen. Jesus redete zum Beispiel ausgesprochen wenig über Sex. Über Sex vor der Ehe sprach er nie. Er nahm nur kurz Stellung zu ausserehelichen Beziehungen Verheirateter. Allerdings lesen wir in den wenigen biblischen Aussagen einen ganzen Berg an angelernten Überzeugungen hinein. Und viele dieser unterschwellig vorhandenen Überzeugungen haben ihren Ursprung in Augustinus' ungesunder Lehre vom «sündigen Fleisch».

Schritte zum Neuanfang

Wie kann hier Veränderung geschehen? Wie ist es möglich, den Sex zu befreien sowie befreienden Sex zu erleben? Und zwar als Christen?

  • Zunächst einmal ist es nötig, dass wir unsere Sexualethik auf der theologischen Grundannahme aufbauen, dass Sex «sehr gut» ist. Statt physische, geistige und geistliche Bereiche zu trennen, muss Sexualität im Wissen verwurzelt sein, dass all diese Aspekte zusammengehören – und gemeinsam wichtig sind für menschliche Beziehungen.
  • Weiter müssen wir über das nachdenken, was Jesus tatsächlich über Beziehungen gesagt hat. Dies soll die Basis unserer (neuen) Sexualethik werden. Weitere Grundlagen sind gegenseitiger Respekt und der Wunsch, auf die körperlichen, emotionalen und geistigen Bedürfnisse anderer einzugehen.
  • Wir blicken auf viele gute Ansätze, aber auch auf jahrhundertelange schlechte Theologie und eine verletzende Lehre zur Sexualität zurück. Gerade in den letzten Jahren ist allerdings einiges in Bewegung gekommen, was Heilung verspricht. Noch liegt ein weiter Weg vor uns, doch er lohnt sich, damit das Geschenk der Sexualität wieder «sehr gut» sein kann.

Zum Thema:

Datum: 18.05.2015
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet / The God Article

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