Kein Recht auf Behinderung?

Ein Mädchen mit Down-Syndrom
Mädchen

Über 90% aller Kinder mit Down-Syndrom-Verdacht werden in Deutschland abgetrieben. Down-Syndrom ist ein genetischer Defekt, der mit Hilfe der pränatalen Diagnostik bereits in der Schwangerschaft erkannt werden kann. Was geschieht, wenn Eltern aus ethischen und Glaubensgründen nicht bereit sind, das Kind abzutreiben?

Gerlinde ist 7 Jahre alt und hat das Down-Syndrom. Gerlinde ist die älteste von drei Kindern. Die anderen zwei Mädchen sind gesund. Viele haben den Eltern zum Schwangerschaftsabbruch geraten. Für die Familie Goldt ist nach der ersten Diagnose eine Welt zusammen gebrochen. Die Eltern mussten sich von der Idealvorstellung eines gesunden Kindes verabschieden. Doch Abtreibung wäre für das Paar niemals in Frage gekommen. Die Ärzte sind darauf kaum eingegangen. Verena Goldt berichtet von ihren Erfahrungen: „Letztendlich war es kein wertneutrales Gespräch. Wir hatten eher das Gefühl, wir sollten noch mal umkehren, und überdenken ob wir nicht doch abtreiben. Wir hatten ja auch das Angebot am nächsten Tag einen Termin zu bekommen. Ich wäre sofort drangekommen zur Abtreibung, hätte ich mich dafür entschieden. Zum Schluss hat man uns auch gefragt, ob wir diese Menschen kennen würden, oder ob man uns Fotos zeigen müsste.“

Abtreibung kam für die Familie Goldt nie in Frage. Sie mussten sich durchsetzen, auch gegen den Widerstand von Verwandten und Freunden.

Die Folgen der Diagnose

Nicht alle Eltern wissen im Vorfeld wie sie sich entscheiden werden. Mit Hilfe der Pränatalen Diagnostik erhoffen sich die meisten Eltern wie Ärzte Behinderungen weitgehend auszuschliessen. Die wichtigsten Methoden sind Ultraschalluntersuchungen und Fruchtwasserpunktionen, mit deren Hilfe Defekte erkannt werden können. Letzteres ist nicht vor dem 5. Monat möglich. Doch es fehlt weitgehend an intensiver Aufklärung der Schwangeren über Folgen und Risiken. Oft liegen zwischen Diagnose und Abtreibung nur wenige Stunden.

Innerhalb kürzester Zeit sollen sich die Eltern zwischen Leben und Tod ihres ungeborenen Kindes entscheiden. Obwohl sie erst einmal Zeit bräuchten, sich mit der Behinderung ihres Kindes auseinanderzusetzen.

Aufgeklärte Eltern wenden sich an Beratungsstellen, wie z.B. dem Sozialdienst katholischer Frauen. Hier ist man bemüht vorschnelle Entscheidungen zu vermeiden. Hierzu Gisela Pingen-Rainer, Bundeszentrale Sozialdienst katholischer Frauen :„Es ist so, dass zu wenig aufgeklärt wird, was das bedeutet, einen Schwangerschaftsabbruch noch machen zu müssen, wenn ein Befund zu einem späten Zeitpunkt der Schwangerschaft vorliegt, das heisst wenn eine Behinderung des Kindes festgestellt worden ist, denn dies ist ein Schwangerschaftsabbruch, der eine eingeleitete Geburt ist und diese Geburt zieht sich unter Umständen über mehrere Tage hin, weil der Körper ja noch gar nicht geburtsbereit ist.“

Die Ärzte dagegen sind gezwungen sofort zu handeln, wenn ihnen Unregelmässigkeiten am Ungeboren auffallen. Wenn nicht, drohen ihnen drakonische Strafen; denn es häufen sich Fälle, in denen Ärzte auf Schadensersatz und Unterhalt verklagt wurden, nur weil ein behindertes Kind zur Welt gekommen ist. Zu oft wird den Eltern suggeriert, man könne mit Hilfe der pränatalen Diagnostik Behinderungen sicher ausschliessen. Immer mehr Menschen glauben in Zeiten moderner Medizin einen Anspruch auf ein gesundes Kind zu haben.

Prof. Rainer Terinde, Sektionsleiter der Pränatalen Diagnostik an der Univ. Frauenklinik Ulm sagt: „Das Problem ist, das mag ich nicht verschweigen, dass quasi jeder Frauenarzt und Ärztin aus wirtschaftlichen Gründen die Ultraschalldiagnostik anbieten muss, weil sonst von den Patientinnen gesagt wird, der oder die kann ja gar keinen Ultraschall vornehmen und wir müssen darüber aufklären, dass man mit dem Ultraschall nicht alles sehen kann und dementsprechend auch übersehene, in Anführungsstrichen, Fehlbildungen vorkommen.“

Eva ist 11 Jahre alt und schwer geistig behindert. Sie wird nie sprechen können. Was sie versteht, weiss man nicht. Ihr genetischer Defekt: Das Angelmansyndrom. Während der Schwangerschaft gerät die Mutter in die Mühlen der pränatalen Diagnostik. Beim Ultraschall wird bei der sogenannten Nackenfaltenmessung des Kindes eine mögliche geistige Behinderung festgestellt. Seit geraumer Zeit gilt eine verdickte Nackenfalte des Kindes als Hinweis auf eine Behinderung. Eine anschliessende Fruchtwasseruntersuchung soll den Verdacht entkräften. Laut Ergebnis ist das Kind gesund.

Und wenn sich alle irren?

Für die Mutter, Jeanne Niklas-Faust, eine emotionale Berg- und Talfahrt: „Allein die Tatsache, dass da etwas gefunden worden ist, hat mich beunruhigt. Und die Fruchtwasseruntersuchung war nicht in der Lage mich wieder zu beruhigen. Das macht mir natürlich schon Sorgen, dass bei jeder achten Frau eine verdickte Nackenfalte gefunden wird, aber nur wenige von denen wirklich ein Kind mit Behinderung haben. Wenn die alle beunruhigt durch ihre Schwangerschaft gehen, ist das schon was ganz Erhebliches; das begleitet einen sehr und lässt einen letztlich nicht mehr los.“

Einige Monate nach der Geburt stellt die Mutter fest, dass sich Eva nicht altersgerecht entwickelt. Die Diagnose: Ein Gendefekt, der über eine Fruchtwasseruntersuchung nicht erkennbar ist. Ein Beispiel, dass die Grenzen der pränatalen Diagnostik zeigt.

Frauen, die sich in einer derartigen Krisensituation befinden sollten umfassend medizinisch, wie auch psychosozial betreut werden. Ausserdem sollte ihnen das Recht zugestanden werden, jegliche Formen der Früherkennung abzulehnen, ohne dabei ins gesellschaftliche Abseits zu geraten. Noch tragischer wird es, wenn abgetrieben wird und die Mutter später erfährt, dass sie ein gesundes Kind abgetrieben hat!

Datum: 11.05.2004

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