Psychiater in der Suizid-Diskussion: "Gerade jetzt dezidiert zum Leben stehen"

Daniel Hell

Zürich - Die Limmat-Stadt gilt als die Stadt mit der weltweit höchsten Lebensqualität. In den letzten Jahren ist Zürich indes auch bekannt geworden als Ort, wo man sich unter Anleitung kundiger Personen, so genannter "Sterbehelfer", das Leben nehmen kann. Auch aus dem Ausland reisen Menschen an, denen das Leben zur schwer erträglichen Last geworden ist. Denn die liberalen Schweizer Gesetze erlauben Beihilfe zum Suizid, zur Selbsttötung. Eine Strafe droht nur im Fall von egoistischen Interessen des Mitwirkenden.

In den letzten Monaten hat das Schweizer Fernsehen (wie auch andere Sender) den Weg zum Suizid abgebildet und das Thema zur Diskussion gestellt. Die rechtliche Lage, das öffentlichkeitswirksame Handeln der Sterbe-Organisationen und die Darstellung durch die Medien erschweren die Arbeit der Psychiater, die sich um Schwermütige kümmern, wie eine Fachtagung in Zürich am letzten Freitag aufzeigte. Eine Psychiaterin erwähnte, dass nach dem TV-Portrait einer Sterbewilligen mehrere depressive Patienten die bange Frage stellten, ob sie sich nun auch das Leben nehmen sollten.

In der Grauzone

Die "Beihilfe" zum Suizid, in der Schweiz grundsätzlich erlaubt, und die auch hierzulande verbotene aktive Sterbehilfe (Tötung auf Verlangen) sind immer weniger auseinanderzuhalten. Wie der Zürcher Staatsanwalt Andreas Brunner an der Fachtagung darlegte, geben die Mitarbeiter der so genannten Sterbehilfeorganisationen die tödliche Substanz, die der Sterbewillige normalerweise selber trinkt, zunehmend über eine Magensonde oder eine Infusion ein.

An der Fachtagung "Suizid und Beihilfe, Krisenintervention und Suizidprävention", die von der Paulus-Akademie Zürich zusammen mit der Schweizerischen Gesellschaft für Krisenintervention und Suizidprophylaxe durchgeführt wurde, sprach Brunner einen weiteren Problemkreis an, der nicht nur den Ärzten zu schaffen macht: Oft ist der Wunsch zu sterben alles andere als beständig - und nicht selten ist der leidende, des Lebens müde Mensch in seiner Urteilsfähigkeit eingeschränkt.

Die Organisation Dignitas, die auch Ausländern Suizidbeihilfe anbietet, arbeite im Blick auf diese zwei Hauptbedingungen für den assistierten Suizid (konstanter Wunsch, Urteilsfähigkeit) nicht transparent genug, sagte Brunner. Er forderte klarere Bestimmungen in der Schweiz, gerade im Blick auf den 2002 gegründeten Verein Suizidhilfe, der sogar psychisch Kranken den assistierten Suizid ermöglicht.

Hilfe? - Ein Wort wird verdreht

Jeder fünfte Suizid (Selbsttötung) in der Schweiz geschieht heute unter Beizug einer aussenstehenden Person. Diese Boten des Todes als ‚Sterbe-Helfer' zu bezeichnen, ist irreführend, eher könnten sie Suizid-Assistenten genannt werden. Während Spitalseelsorger, Ärzte und Pflegende den Leidenden auf dem letzten Stück des Lebenswegs zu helfen versuchen, treten Suizid-Assistenten auf, um den Tod herbeizuführen.

Das meist dafür verwendete Wort ‚Beihilfe zum Suizid' droht (wie schon der ungenauere Begriff ,Sterbe-Hilfe') das hilfreiche Handeln, das auf Erhaltung und Pflege des Lebens und auf das Lindern von Leiden zielt, immer mehr zu überschatten - und im Grenzbereich, bei Menschen ohne Lebenskraft, zu verdrängen.

Wenn auch der ‚hilft', der den Tod bringt, findet eine dramatische Verschiebung im Wortsinn statt. Dies macht auch dem Psychiater Daniel Hell, dem Leiter der psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli in Zürich, zu schaffen. Und er war nicht der einzige Psychiater, der seine Zunft in die Defensive gedrängt sah.

‚Mein Ziel sind weniger Depressionen'

Gegenüber Livenet betont Professor Hell, dass das ärztliche Helfen darauf abzielt, "den Menschen in der Not zu helfen, mit dem Ziel, dass diese Not abklingt. Menschen soll im Leben geholfen werden, dass sie ohne oder mit weniger Depressionen, mit weniger Angst leben können. Das ist meine Aufgabe."

Wenn nun die Sprachregelung aufkommt (und von den Medien, ob gewollt oder nicht, gefördert wird), dass auch der Tod-Bringende ein ‚Helfer' ist, dürfte dies laut Hell eine grössere gesellschaftliche Akzeptanz für diese Haltung anzeigen. "In einer Zeit, da wir immer weniger Möglichkeiten und Ressourcen haben, um in meinem Sinn zu helfen, um die Not zu lindern, ist es natürlich gefährlich, wenn man jetzt einen Ausweg sucht, quasi hilft, den Tod zu bringen. Das ist kein Leben im Helfen, sondern eigentlich ein Ausweichen vor der Not im Leben."

Gefahr für die ärztliche Ethik?

Gefährdet das neue Reden über den Suizid und sein Herbeiführen die ärztliche Ethik? Hell differenziert. In einzelnen Notsituationen seien Ärzte schon immer das Risiko eingegangen, dass der Patient sterbe. "Und dies geschieht auch in Absprache mit dem Patienten, der Patientin - dann wenn das körperliche Leiden so gross ist, dass man eine hohe, gefährliche Dosis von Opiaten gibt." Aber heute stellt sich die Lage anders dar: "Was jetzt geschieht, ist die Organisierung der Suizid-Hilfe - und da steckt das Problem."

Vor den Tagungsteilnehmern schloss sich Daniel Hell denen an, die für eine bessere Betreuung schwer Leidender (palliative Medizin) eintraten. Er schloss sein letztes Votum mit dem Satz: "Ich glaube, dass wir gerade in dieser Situation dezidiert zum Leben zu stehen haben."

Datum: 10.04.2003
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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