Christen in der Türkei diskriminiert – wie lange noch?

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Moschee

Die Türkei verlangt von der EU jetzt ein Datum für Beitrittsverhandlungen. Die Regierung Ecevit, die mit den Wahlen im November untergegangen ist, und auch die neue Regierung der ‚gemässigten‘ Islamisten drängen die EU-Regierungen zu diesem Schritt. Die USA haben sich für die Aufnahme der Türkei in die EU ausgesprochen. Am Mittwoch sagte der britische Aussenminister Straw, nichts würde der EU in der heutigen Situation besser bekommen als die Aufnahme eines demokratischen Staates mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung.

Das offizielle Ankara betont, die Türkei habe samt ihrem anatolischen Hinterland unwiderruflich Kurs genommen auf Europa. Mit diversen Gesetzesänderungen wurde dies unterstrichen; die Ausführungsbestimmungen für viele dieser Gesetze stehen allerdings noch aus. Und die Kurden in der Türkei können sich bei weitem nicht so als Minderheit entfalten, wie dies im Westen gefordert wird, auch nach der prinzipiellen Zulassung des Kurdischen als Sprache für Schulen und Medien (kurze tägliche Radio- und Fernsehsendungen) im August.

Seit Urzeiten: Türken gegen ‚Christen‘

Es gibt neben den Kurden eine viel kleinere, ja winzige Minderheit in der Türkei: die evangelischen Christen. Am Umgang der türkischen Behörden und Medien mit ihnen ist abzulesen, welchen Stellenwert die Menschenrechte im Alltag haben. In den letzten 20 Jahren sind in mehreren Städten evangelische Gemeinden von Türken entstanden. Diese Christen scheuen sich nicht, ihren Glauben in persönlichen Kontakten weiterzusagen und gar die Bibel unters Volk zu bringen – unter ein Volk, dessen legendäre Herrscher einst das Reich der Byzantiner vernichteten. Im Kampf gegen das byzantinische Grossreich wurden die Osmanen gross. Über 400 Jahre herrschten die Sultane mit harter Hand über die Völker des Balkans und beuteten sie aus (auch wenn sie den Christen ihre eigenen orthodoxen Richter liessen). Das türkische Nationalbewusstsein kommt nicht aus ohne diese imperialen Erinnerungen.

Das scharfe Nein zum Christentum und der Kampf gegen Christen im eigenen Machtbereich schlugen besonders in der Zeit des osmanischen Niedergangs auf die Politik durch: Im Ersten Weltkrieg verübten die Türken einen Völkermord am benachbarten christlichen Volk der Armenier – ein Verbrechen, das die offizielle Türkei bis heute leugnet. Nach 1920 wurden Hunderttausende von Griechen aus dem Küstenstreifen am Ägäischen Meer vertrieben (wie auch Türken aus Griechenland).

Und nun gibt es (meist junge) Türkinnen und Türken, die – ganz im Gegensatz zu allem, worauf ihre Nation stolz ist – Christen werden und als Nachfolger von Jesus Christus leben wollen.

Die Türkei: kein islamischer Staat, aber...

Mustafa Kemal Pascha, der mit dem Ehrennamen Atatürk (Vater der Türken) bedachte Gründer der modernen Türkei, stellte nach 1923 den Staat mit autoritären Massnahmen auf eine säkulare Grundlage. Das Kalifat wurde abgeschafft. Der Islam, seine Geistlichen, die verpflichtenden Vorschriften wurden aus dem öffentlichen Leben verdrängt. Anstelle der Tradition sollte die Moderne treten. Eine moderne Rechtssprechung, die sich nicht an der Scharia orientiert, wurde eingerichtet. Nach dem Gesetz ist die Ausbreitung der eigenen Religion erlaubt.

Aber heute setzen die Islamisten, deren Einfluss in Landgebieten und in den Armenvierteln der Millionenstädte mit sozialen Spannungen zunahm, andere Signale. ‚Missionarische Aktivität‘ ist ein Reizwort in den Medien. Aktiven Christen werden im Fernsehen ‚verräterische‘ Machenschaften angelastet, dies ohne irgendeinen Beweis. Uralte, tief sitzende Vorurteile werden weiter gehärtet statt abgebaut.

Islam als Zement beim Marsch nach Europa?

Im Journal des (staatlichen) Direktorats für religiöse Angelegenheiten war zu lesen, alle Aktivitäten zur Ausbreitung des Christentums in der Türkei stellten eine grosse Gefahr für die Zukunft der Nation dar. Sie hätten nicht bloss ein religiöses, sondern auch ein imperialistisches Ziel: fremden Staaten wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Einfluss in der Türkei zu verschaffen. „Aus dieser Sicht sind missionarische Aktivitäten zu verstehen als Kreuzzugs-Mentalität in anderer Gestalt... Die Bibelgesellschaft hat ihr Hauptquartier mitten im kulturellen Zentrum des Landes errichtet; sie führt auf unserem Grund und Boden tatsächlich einen Strassenkampf...“

Der Parlamentsabgeordnete Aslan Polat forderte im Dezember 2001 im Parlament, das Direktorat müsse den Missionaren mit einer Aufklärungskampagne entgegentreten. Anatolien (der asiatische Teil der Türkei) sei zu 99,9 Prozent muslimisch, „und das ist sein stärkster Zement“. Das Direktorat (des säkularen Staates!) müsse „den Glauben aller Muslime stärken, so dass dieser Zement des Muslim-Seins nicht zerbröckelt“. Dies sei besonders wichtig, wenn die Türkei in die EU eintrete...

Dabei werden ständig die Kulissen der imperialen Geschichte aufgefahren: Auf der Website des Kulturministeriums in Ankara wurde behauptet, die von den USA und Grossbritannien ausgehenden Missionsbemühungen hätten im Anatolien des 19. Jahrhunderts „den Weg bereitet zu den Aufständen der Armenier“. Die angelsächsischen Missionare, schrieb der Historiker Abdülkader Yuvali, seien zwar von verschiedenen Kirchen ausgesandt worden, sie hätten verschiedenen imperialistischen Mächten als Handlanger gedient, aber seien sich einig gewesen in der „Feindschaft gegenüber den Osmanen“.

Justiz schützt die Rechte der Christen

Im März sagte Staatsminister Yücelen in der Nationalversammlung, von 1998 bis 2001 sei gegen 293 Personen, davon 140 türkische Bürger, Anzeige erhoben worden aufgrund missionarischer Aktivitäten. Ueber die Zahl der Strafverfahren und Urteile schwieg sich der Minister aus – die Justiz, die sich an die säkularen Vorgaben Atatürks hält und die Unterschrift der Türkei unter die UN-Menschenrechtserklärung und die Europäische Menschenrechtskonvention beachtet, pfeift die Behörden regelmässig zurück.

So hielt der Oberste Gerichtshof des Landes im Jahr 1986 fest: „Die Bildung von Gemeinden durch jene, die diesen Glauben teilen, ihre Zusammenkünfte und Gottesdienste sowie das Lehren und Verbreiten ihrer Glaubensinhalte – mit anderen Worten: ihre Handlungen zur Förderung ihres Glaubens – liegen innerhalb des Geltungsbereichs von Artikel 24 der Verfassung und stellen kein Vergehen dar.“

Vorurteile, Barrieren, Ausgrenzung

Doch die evangelischen Christen der Türkei leiden unter den Vorurteilen und spüren zeitweise massiven Druck, wie ein Papier der Allianz der protestantischen Kirchen im Land belegt: Personen werden beim Verteilen von Bibeln verhaftet, Eltern von Kindern, die sich christlich äussern, werden von der Polizei verhört. Am 12. September 1999 unterbrach die Polizei (mit automatischen Waffen ausgerüstet) den Gottesdienst der Karatas-Gemeinde in Izmir, versiegelte das Gebäude, nahm die 40 Anwesenden mit in die Antiterrorismus-Abteilung und hielt sie über Nacht fest. Der Staatsanwalt sah von einer Anklage ab, da das Verhalten der Christen rechtens gewesen sei. Ja, er ermittelte gegen die Sicherheitskräfte an, die mit einem Journalisten in der Kirche erschienen waren! Die Karatas-Gemeinde erhielt Ende 1999 die amtliche Erlaubnis sich zu versammeln. Doch im März 2002 liess das Büro des Gouverneurs von Izmir die Christen wissen, ihr Lokal könne nicht für kirchliche Zwecke verwendet werden...

Hürdenreicher Kampf um Räumlichkeiten

Am 17. August 2001 wies das türkische Innenministerium in einem Rundschreiben die Provinzgouverneure an, wie sie auf Gesuche zur Oeffnung von Gottesdienstlokalen zu reagieren hätten. Laut dem erwähnten Papier, das der Anwalt Orhan Kemal Cengiz für die Allianz der protestantischen Gemeinden der Türkei verfasste, verbaut das Rundschreiben praktisch die Oeffnung von Kirchen in der Türkei: „Ständig werden neue gesetzliche Regelungen als unpassierbare Hürden vor den türkischen Protestanten aufgestellt: die Kirchen versiegelt, die Ueberschriften abgenommen, die Mitglieder selbst von der Polizei festgehalten.“ Die Anordnungen aus Ankara verletzten die Verpflichtungen, die die Türkei in den internationalen Menschenrechtsabkommen eingegangen ist. Auch die angeführten türkischen Gesetze hätten gar keinen Bezug zu den Gottesdiensträumlichkeiten, schreibt Cengiz. (Und er zitiert en passant den Chef des Religions-Direktorats, wonach vier von fünf neuen Moscheen im Land ohne Baubewilligung und die Hälfte gar ohne architektonische Pläne gebaut werden.)

Die Türkei wirbt um Kultur-Touristen, und sie hat mit der grossen Zahl historischer Stätten aus der Zeit der Alten Kirche zahlreiche Trümpfe (Ephesus, Kappadokien). Es geht nicht an, Touristen einzuladen an die Stätten des vergangenen Christentums und zugleich die einheimischen Christen von heute zu verleumden. Setzt die neue Regierung der ‚gemässigten‘ Islamisten mit Blick auf den nachdrücklich geforderten EU-Beitritt der Diskriminierung ein Ende?

Datum: 14.12.2002
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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