War die Moskauer Geiselbefreiung ethisch gerechtfertigt?

Geiseldrama

Hannover. Die Erstürmung des von tschetschenischen Terroristen besetzten Moskauer Musicaltheaters wird von evangelischen Ethikern in Deutschland unterschiedlich beurteilt. Bei der Rettungsaktion kamen mindestens 118 Geiseln durch das von den Sicherheitskräften verwendete Betäubungsgas ums Leben, viele befinden sich noch in Krankenhäusern.

Mit der Überlegung, dass man in einer ausweglos erscheinenden Situation einige Menschen opfere, um möglichst viele zu retten, mache man sich immer schuldig, sagte der Geschäftsführer der EKD-Kammer für öffentliche Verantwortung, Oberkirchenrat Eberhard Pausch. Zu einer ethisch verantwortbaren Entscheidung gehöre, militärische Gewalt erst dann einzusetzen, wenn alle politischen Mittel erfolglos blieben. Auch danach müssten die Mittel eine Verhältnismässigkeit erkennen lassen. Weitere Kriterien seien, dass die Befehlenden bereit seien, Verantwortung für ihre Anordnungen zu übernehmen und die Gründe für ihre Entscheidungen öffentlich zu machen.

Machtdemonstration?

Auch der Professor für systematische Theologie und Ethik an der Universität Bonn, Ulrich Eibach, ist der Ansicht, dass die Konfliktlösung der russischen Regierung politisch kaum und ethisch nicht zu rechtfertigen ist. Politiker und Militärs hätten sich für eine Machtdemonstration entschieden, wie sie es auch in Tschetschenien täten. In ihrem Prestigedenken zählten Menschenleben offensichtlich wenig. Wahrscheinlich vergrössere sich noch die Zahl der Todesopfer, und auch die Überlebenden müssten mit bleibenden Schäden rechnen. Sie seien nicht für eine gerechte Sache geopfert worden, sondern als Folge eines äusserst brutalen Krieges, der allerdings nicht die nicht minder brutale Besetzung des Theaters rechtfertige.

Von ernsthaften Verhandlungen über die Forderungen der Terroristen nach einem Ende der russischen Besatzung ihrer Heimat habe man nichts gehört. Deshalb könne sich die Regierung auch nicht darauf berufen, alternativlos gewesen zu sein. Sie habe das staatliche Gewaltmonopol bedenkenlos gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt.

“Völlig korrekt” gehandelt

Gegenteiliger Auffassung ist der Ethikprofessor an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule in Basel, Georg Huntemann. Die russische Regierung habe “völlig korrekt” gehandelt. Ein Staat, der sich erpressen lasse, mache sich lächerlich. Bei der Befreiung habe man den Tod eines Teils der Geiseln in Kauf nehmen müssen, ohne die Gefühle von deren Angehörigen zu berücksichtigen. Ein späteres Eingreifen der Sicherheitskräfte hätte vermutlich noch verheerendere Auswirkungen gehabt. Der evangelikale Theologe beruft sich auf den Apostel Paulus, der im Brief an die Römer zum Gehorsam gegenüber den Regierungen aufruft, und auf den deutschen Theologen und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer (1906-1945). Man müsse zur Schuldübernahme bereit sein, wenn man keine anderen Möglichkeiten zur Rettung von Menschen sehe. In der von Gott abgefallenen Welt liessen sich nicht alle Probleme mit Verhandeln und Liebe lösen.

Kommentar

Prof. Manfred Seitz

Wenn das Unglück ins nicht mehr Beherrschbare hinübergleitet

Der Theologe Paul Schütz sagte: Nicht Seuchen, Teuerung, Erdbeben und schwere Zeit seien die Zeichen der Endzeit. Das habe es immer gegeben. Das Hinübergleiten aller Dinge ins Riesige, ins nicht mehr Beherrschbare, sei es, das von den Christen beachtet werden müsse.

Am 11. September 2001 waren es über 3.000 Tote. Am 23. Oktober 2002 waren es über 700 Geiseln, die in Moskau in diese entsetzliche Lage gebracht wurden. Man konnte nur noch den Atem anhalten und fragen: Wie soll das ausgehen? Die Politiker reagierten ausnahmslos politisch: Nachgeben komme nicht in Frage; Rückzug der russischen Truppen aus Tschetschenien auch nicht. Es handle sich ohnehin nicht um reguläres Militär, sondern um Kontingente zur Bekämpfung von Terroristen. Das Mitgefühl aller sei Russland sicher.

Das Zeichen bleibt ungedeutet

In letzter Minute gelang es einem russischen Einsatzkommando, das Geiseldrama zu beenden und mit einer hohen Zahl von Toten zu beherrschen. Die Überlebenden, gewiss für ihr Leben seelisch gezeichnet, und wir alle, die das Geschehen verfolgt haben, können aufatmen. Aber nicht ganz. Das Zeichen, so ist zu vermuten, bleibt ungedeutet. Der Tschetschenien-Krieg geht weiter, das Sterben auf beiden Seiten auch; die Verzweiflung wird wachsen, und der weltweit verzweigte Terrorismus hat neuen Grund.

Ethik aus Glauben in die Politik bringen

Man darf nicht schweigen. Es bleibt bei der Aufgabe der Christen, Ethik aus Glauben auch ins Politische zu bringen. Und zwar aus zwei Gründen:

1. Im Politischen regiert die Kirche nicht. Dort gelten eigene Gesetze. Aber auch diese Gesetze stehen unter Gott, und er regiert durch sie, manchmal unkenntlich, verborgen und nicht aufzudecken, wie Gott sie für sein Handeln dienstbar macht. Ins weltliche Regiment jedoch hineinzureden, nicht alles sich selbst überlassen, deutlich zu machen, dass es auch weltliche Macht den Weisungen Gottes untersteht, ist Auftrag der Christen und kirchlicher Dienst.

2. Der autonome Mensch meint sonst, er könne alles ohne Verantwortung vor einer “oberen Instanz” vollführen. Ihn an diese Instanz zu erinnern, ist die Aufgabe der Kirche, auch wenn sie, wie in diesem Fall, wenig ausrichten kann.

Datum: 30.10.2002
Quelle: idea Deutschland

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