Spannungen innerhalb des Islam

Lagos/Nigeria. Die Angriffe vom 11. September haben wie nie zuvor die Aufmerksamkeit des Westens auf die islamische Welt gelenkt. Schnell erkannte man, dass der Islam ein komplexes Phänomen ist, mit keiner zentralisierten Autorität und weitreichenden Wurzeln in vielen Kulturen und Nationen.

Deutlich erkennbar sind jedoch Spannungen innerhalb des Islams zwischen denen, welche die Aussenwelt ablehnen, und denen, die eine Art von Versöhnung mit anderen Kulturen und Glaubensrichtungen anstreben. Ein typisches Beispiel ist Nigeria.

Im letzten Monat forderten nigerianische muslimische Ankläger im Staat Zamfara, dass an zwei Männern die Todesstrafe vollstreckt werden solle, die angeklagt sind, vom Islam zum Christentum konvertiert zu sein, berichtete die britische Agentur “Ananova” am 24. April. Lawali Yakubu und Ali Jafaru waren angeklagt, der ‚Grossen Sendungs-Bewegung’ beigetreten zu sein, einer internationalen evangelischen Religionsgemeinschaft mit einer starken Anhängerschaft in Nigeria.

Ein paar Tage später berichtete die in Lagos erscheinende Zeitung “Daily Champion”, dass die beiden Männer, dank des vorsitzenden islamischen Richters, der Verurteilung zum Tode entgingen.

Der Richter Alhaji Awal Jabaka habe erklärt, wenngleich der Koran und einige andere islamische Bücher den Tod für jeden Moslem forderten, der zu einer anderen Religion übertrete, sehe das lokale Schariah-Gesetzbuch keine solche Strafe vor, meldeten die Medien.

Kontroversen über das islamische Recht in Nigeria erstrecken sich auch auf die nationale Ebene, berichtete das April Bulletin von “Compass Direct”. Justizminister Kanu Agabi erklärte die Anwendung des islamischen Rechtssystems in zwölf nördlichen Staaten für illegal und verfassungswidrig. Agabi gab diese Erklärung in einem Brief vom 18. März ab, der an die Gouverneure der Staaten gerichtet war, welche die Anwendung der Scharia eingeführt hatten.

Er schrieb, die Bundesregierung schätze zwar die Motive der muslimischen Gouverneure bei der Anwendung des islamischen Gesetzbuches, sie sollten jedoch ihrem “Eifer für Gerechtigkeit und Durchsichtigkeit nicht erlauben, das zu Grunde liegende Gesetz der Nation zu unterminieren, das die Verfassung ist.” Agabi fügte hinzu: “Ein Gericht, das diskriminierende Strafen verhängt, missachtet absichtlich die Verfassung.”

Seine Erklärungen stiessen auf die Kritik des Generalsekretärs des Obersten Rates für Islamische Angelegenheiten Nigerias. Lateef Adegbite sagte, dass die Regierung, wenn sie das islamische Gesetz für verfassungswidrig erkläre, zu einer Zwangsherrschaft und Diktatur würde.

Uneinigkeiten über Selbstmordattentäter

Eine weitere Streitfrage, die für Spannungen sorgt, konzentriert sich auf die Selbstmordbomber im israelisch-palästinensischen Konflikt. Ahmed al-Tayeb, der neue Mufti von Ägypten, unterstütze die Attentäter, berichtete die “Financial Times” am 5. April. Sein Vorgänger, Farid Nasser Wassel, habe ebenfalls die palästinensischen Selbstmordbomber gelobt und sie -- ungeachtet ihrer Opfer-- Märtyrer genannt.

Tayeb, dem sein Amt direkt von der Mubarak-Regierung verliehen wurde, ist die zweithöchste religiöse Autorität in Ägypten. Seine Autorität wird nur von der Muhammed Sayyid Tantawis überragt, einer massvollen Persönlichkeit, Scheich von Al-Azhar, Direktor der Moschee-Universität.

Vorher hatte Tantawi, der auch eine politische Machtstellung hat, entschieden, dass alle Angriffe auf Zivilisten verboten werden sollten. Er erhielt Unterstützung vom obersten geistlichen Würdenträger in Saudi-Arabien, Scheich Abdul Aziz Al ash, der entschied, dass die meisten der von Palästinensern und anderen durchgeführten Kamikazeangriffe selbstmörderischer Natur sind.

Im Islam, gleich welcher Färbung, sei Selbstmord ausdrücklich verboten. Nur Gott könne Leben geben und nehmen. Somit seien diese Angriffe, so Scheich Al ash, verboten.

Aber am 15. April wies ein Bericht in der israelischen Zeitung “Ha'aretz” darauf hin, dass Tantawi Selbstmordbomber unter einigen Voraussetzungen befürwortet habe. “Ich sage weiterhin, dass kein Moslem beabsichtigen sollte, sich mitten unter Kindern und Frauen in die Luft zu sprengen, sondern unter Angreifern, unter Soldaten, die sabotieren, töten und angreifen,” habe Tantawi zu Reportern gesagt.

Inzwischen pries der Saudiarabische Botschafter in Grossbritannien, Ghazi Algosaibi, die palästinensischen Selbstmordbomber und kritisierte die Vereinigten Staaten in einem Gedicht, das in einer in London erscheinenden Zeitung veröffentlicht wurde, wie die “Washington Times” am 16. April berichtete. “Ihr starbet Gottes Wort zu ehren”, schrieb Ghazi Algosaibi in “Die Märtyrer”, einem kurzen Gedicht auf der Titelseite der Saudiarabische staatseigenen Tageszeitung “Al Hayats”.

Am gleichen Tag berichtete Reuters, irakische muslimische religiöse Führer hätten per Dekret verkündet, dass Selbstmordangriffe von Palästinensern gegen Israelis ein tugendhafter Akt des Dschihad, des Heiligen Krieges seien. “Die muslimischen geistlichen Führer im Irak segnen diese selbstmörderischen Akte und fordern alle muslimischen geistlichen Führer auf, die Kämpfer zu unterstützen und mit ihren Fatwas (islamischen Rechtsgutachten) zu verteidigen”, lautete das Dekret.

Am 1. Mai berichtete Reuters, der oberste Führer des Iran, Ayatollah Ali Khamenei, habe Selbstmordbomber gelobt, die das Leben Dutzender von Israelis gefordert haben. “Die Palästinenser erheben sich gegen ihre Unterdrückung und Demütigung, und ihr Widerstand gipfelt in ihren das Martyrium suchenden Operationen, die den Feind erzittern lassen,” sagte Khamenei. “Sich für die Religion und das Wohl der Nation zu opfern, ist das Höchste an Ehre und Tapferkeit.”

Abgrenzung der islamischen Welt von anderen Kulturen

Ein aufschlussreiches Beispiel für die Abgrenzung der islamischen Welt von anderen Kulturen brachte das “Wall Street Journal” am 9. April. Das Königreich Saudi-Arabien beschäftigt 5,4 Millionen Ausländer, ein Viertel seiner Gesamtbevölkerung, um seine Wirtschaft am Laufen zu halten. Gleichzeitig verbietet es öffentliche Gottesdienste jeglicher anderer Religion, unter Berufung auf seinen Status als Heimstätte der beiden höchsten Heiligtümer des Islam.

Dieser Ausschluss anderer Religionen geht so weit, dass beinahe alle Nichtmoslems, wenn sie gestorben sind, zur Bestattung ins Ausland transportiert werden müssen. Die Saudis befürchten, dass sie, wenn sie Nicht-Muslime in ihrem Land beerdigen, fremden Religionen Auftrieb geben würden. Mehr als ein Viertel der ausländischen Arbeitskräfte Saudi-Arabiens ist nicht muslimisch, berichtete das “Journal”. Die Arbeiter setzen sich zusammen aus indischen Hindus und thailändischen Buddhisten, bis hin zu philippinischen Christen.

Aber Islam, das ist nicht nur Saudi-Arabien. Der frühere Indonesische Präsident Abdurrahman Wahid erklärte in seinem Artikel, der am 10. April in der australischen Zeitung “The Age” veröffentlicht wurde: “Die meisten Moslems lehnen Gewalttaten jeder Art, die im Namen der Religion begangen werden, entschieden ab. Deshalb tut es uns weh, immer wieder zu sehen, `wie der Name ‚Islam‘, ‚Religion des Friedens', mit internationalem Terrorismus verknüpft wird.”

Der Exführer der volkreichsten islamischen Nation räumte jedoch ein, “wir haben innerhalb der muslimischen Welt Gruppen, die Gewaltanwendung aus Gründen der Verteidigung des Islam gegen die Tyrannei des unzivilisierten Westens rechtfertigen.”

Wahid forderte Reformen am islamischen Gesetz, wie zum Beispiel die Abschaffung der Todesstrafe für Moslems, die zu einem anderen Glauben konvertieren. Er empfahl auch, die nächste Generation möge sich nicht eine simplifizierende formelhafte Methode des Nachdenkens über ihren Glauben zu eigen machen. Er wies darauf hin, dass die Anpassung der Dokumente aus den Wüstenkönigreichen des siebenten- und achten Jahrhunderts an die modernen Verhältnisse eine “ Interpretationsaufgabe” ist, bei der es um “feine Unterschiede” geht.

Darum muss jedes Urteil über den Islam dessen “Wanderdünen” der Doktrin und der Interpretation berücksichtigen. Politische Faktoren müssen einbezogen werden, wenn man die muslimische Feindseligkeit gegenüber dem Westen, besonders gegenüber den Vereinigten Staaten beurteilt. All dies erfordert einen informierten, andauernden Dialog zwischen den islamischen und westlichen Kulturen.

Datum: 13.05.2002
Quelle: Zenit

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