Hirnforscher und Religion

kopf

Der Geburtsort der Neurotheologie konnten eigentlich nur die USA sein. Ein Land, in dem sich 40 Prozent der Forscher zum Glauben an Gott bekennen, hat auch weniger Berührungsängste, die Brücke von den Naturwissenschaften zur Religion zu schlagen. Im deutschen Klima des wissenschaftlichen Atheismus wäre man vermutlich gar nicht auf die Idee gekommen, Wurzeln des Glaubens im Gehirn auszumachen. Seit Sigmund Freud (1856-1939), dem Begründer der Psychoanalyse, gilt Religion als “universelle Zwangsneurose” – also eher ein Fall für den Seelenklempner denn für den Mediziner.

Religiöse Epileptiker

In dieser Kategorie dachte wohl auch der Neurologe Vilayanur Ramachandran von der Universität von Kalifornien in San Diego. Doch dann begegnete er Paul. Der war 32 Jahre alt, leitender Mitarbeiter eines Büros der Heilsarmee. Paul redete mit glühender Begeisterung von Erleuchtungen, Visionen, dem Gefühl des Verschmelzens mit dem Schöpfer. Und er litt unter einer speziellen Form der Epilepsie, die im Schläfenlappen hinter dem linken Ohr ausgelöst wird. Auch von anderen Schläfenlappen-Epilektikern war berichtet worden, sie hätten häufiger “geistliche Visionen”. Ramachandran zeichnete penibel die Gehirnströme dieser Menschen auf und entdeckte auffällige Aktivitäten hinter der Schläfe, einen elektrischen Sturm in den grauen Zellen. Für den Forscher wurde klar: Er hatte im menschlichen Gehirn das Wahrnehmungsorgan für das Übersinnliche gefunden. Er nannte es das “Gott-Modul”. Bei religiösen Epileptikern diagnostizierte der US-Forscher weitere Veränderungen unter der Schädeldecke, und zwar im sogenannten Mandelkern des limbischen Systems. Diese Region steuert, welche Gefühle Umweltreize in einem Menschen auslösen. Auch in diesem Punkt weichen die religiösen Epileptiker von der Norm ab. Paul zum Beispiel reagierte messbar kühl auf Sex- und Gewaltdarstellungen, aber heiss auf das Wort “Gott” und religiöse Bilder.

Eins mit der Umwelt

Einen anderen Aspekt von Religion, nämlich die Meditation, hat der Radiologe Andrew Newberg aus Philadelphia (Pennsylvania) erforscht. Buddhistischen Mönchen und Franziskanernonnen gab er im Experiment während ihrer spirituellen Übungen eine leicht radioaktive Substanz ins Blut. Eine Spezialkamera konnte nun überwachen, welche Gebiete im Gehirn besonders aktiv wurden. Newberg entdeckte: Eine Region im hinteren Teil des Gehirns, die für die Orientierung eines Menschen und die Wahrnehmung der Grenzen seines Körpers zuständig ist, war während der Meditation leicht lahmgelegt. Es folgte das Gefühl, mit der Umwelt eins zu sein, die Grenzen des eigenen Leibes hinter sich zu haben. In dieser Hinsicht gab es keinen Unterschied zwischen den Anhängern der verschiedenen Religionen. Bei den Franziskanerinnen zeigte sich im Gegensatz zu den Buddhisten aber das Sprachzentrum im Gehirn erregt. Der Grund: Die frommen Frauen hatten sich – im Gegensatz zu den Nachfolgern Buddhas – durch das Sprechen und Hören geistlicher Verse in einen meditativen Zustand gebracht.

Helm verschafft Gotteserfahrung

Es laufen also eine Menge messbare Prozesse in den Hirnwindungen eines Menschen ab, der sich dem Glauben zuwendet und nach eigenem Empfinden Gott erlebt. Der kanadische Neuropsychologe Michael Persinger versuchte deshalb den umgekehrten Weg. Seine Überlegung: Wenn ich die fürs Religiöse zuständige Hirnregionen eines Menschen stimuliere, verschaffe ich ihm damit auch religiöse Gefühle? Persinger entwickelte einen Helm, der ein sich bewegendes Magnetfeld erzeugt. Diesen Helm liess er Versuchspersonen zwanzig Minuten lang tragen. Vier von fünf Probanden beschrieben die ausgelösten Empfindungen als übernatürlich oder spirituell. Sie fühlten die Gegenwart eines höheren Wesens, eine Berührung Gottes, Transzendenz. Darüber berichtet das Magazin “Gehirn und Geist” (Heidelberg).

Religion im Menschen “eingebaut”

Könnte man alle diese Beobachtungen für faszinierend halten, so sorgen die Schlussfolgerungen für Verwirrung. Für einige atheistische Wissenschaftler scheint klar zu sein: Religion ist nichts anderes als eine messbare Hirnaktivität; Gott wohnt in den grauen Zellen – und sonst nirgends. Das Aussterben religiöser Erfahrungen und Überzeugungen dürfte dann allerdings noch lange auf sich warten lassen. Denn wenn der Umgang mit dem Übersinnlichen gleichsam in das Hirn der meisten Menschen eingebaut ist, werden sie es so schnell nicht wieder los. Der Biologe Edward Wilson von der Harvard-Universität spricht deshalb im Blick auf die Religion von einem “unauslöschlichen Bestandteil der menschlichen Natur”.

“Ziemlicher Unfug”

Einer, der sehr wenig vom Rummel um die amerikanischen Forschungsergebnisse hält, ist der Neurophysiologe Manfred Spreng von der Universität Erlangen. “Solche Ergebnisse waren absolut zu erwarten.” Es sei nicht verwunderlich, dass sich besondere Aktivitäten und Erfahrungen eines Menschen irgendwo im Gehirn niederschlagen. Die Wissenschaft habe in den vergangenen Jahrzehnten sehr detaillierte Kenntnisse darüber erworben, wie jedes Teil des Gehirns für eine besondere Aufgabe zuständig sei. Da scheint in den Augen Sprengs die Erkenntnis fast eine Banalität, dass Religion und Meditation nicht in allen Hirnregionen gleichermassen stattfinden, sondern nur in bestimmten Zentren. Mit den Interpretationen aus solchen Forschungsergebnissen werde denn auch “ziemlicher Unfug” getrieben. “Wir können vielerlei elektrische Signale und Stoffwechselprozesse des Gehirns messen. Deshalb verstehen wir noch lange nicht, wie das Gehirn in seiner Komplexität funktioniert.” Vor allem über das Zusammenwirken verschiedener Hirnregionen lasse sich derzeit in vielfacher Hinsicht nur spekulieren. Spreng hält auch die vermutete Nähe von Religiosität und Epilepsie für fragwürdig. In einer Erlanger Fachabteilung, die Epileptiker behandelt, gebe es keine auffällige Spiritualität der Kranken. Ähnliches berichtet im Nachrichtenmagazin “Spiegel” (Hamburg) der Bonner Neurologe Christian Elger, der die grösste Epilepsieklinik Deutschlands leitet: “Wir sehen hier sehr viele Epileptiker. Aber von einer besonderen Neigung zur Religiosität haben wir nie etwas bemerkt.”

Wie entstand Religion?

Auffällig ist auch: Das Krankheitsbild des Heilsarmisten Paul und anderer Epileptiker, unsensibel für Sex- und Gewaltdarstellungen zu sein, trifft auf den durchschnittlichen religiösen Menschen keineswegs zu. Der Kirche wäre beispielsweise mancher Sexskandal erspart geblieben, würde dem Frommen aufgrund seines Glaubens die Enthaltsamkeit von vornherein leichter fallen. Gravierender als solche Beobachtungen ist der Erklärungsnotstand, in den materialistische Wissenschaftler geraten, wenn sie das Entstehen von Religion erklären sollen. Laut Evolutionstheorie setzt sich bei einem Lebewesen ein Entwicklungsmerkmal nur dann durch, wenn es Vorteile bietet und das Überleben verbessert. Warum aber sollte der Vorläufer des Menschen so etwas wie Religion entwickelt haben? Die Spekulationen darüber gehen wild durcheinander. Vermutet wird etwa, dass erst durch die Bildung eines Selbstbewusstseins (das den Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheidet) auch die eigene Endlichkeit durch den Tod bewusst geworden sei. Religion sei entstanden, um den Menschen auf ein Leben nach dem Tod zu vertrösten.

Eine andere Mutmassung: Weil mit der Ausbildung des Intellekts gleichzeitig der Instinkt des Menschen verkümmerte, brauchte es für das Handeln des Menschen eine andere zwingende Norm, um das soziale Miteinander nicht zu gefährden. Dazu eignete sich am besten eine aussenstehende, höhere Autorität – Gott. Von solcher Logik lassen sich allerdings nicht einmal alle atheistischen Wissenschaftler überzeugen. “Warum sollte sich ein Gehirn dahin entwickeln, in Überzeugungen Trost zu finden, die es eindeutig als falsch erkennen kann?” fragt zum Beispiel Steven Pinker, Soziobiologe am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) laut einem Artikel im “Spiegel”. Er weist das Trost-Argument auch deshalb zurück, weil laut Umfragen nur eine Minderheit als Grund für ihren Glauben Tröstung nennt. Knallharten Evolutionisten ist mit solchen Gegenpositionen nicht beizukommen. Sie argumentieren umgekehrt: Gerade weil man im Gehirn ein “religiöses Zentrum” entdeckt hat, muss es einen Überlebensvorteil darstellen – sonst hätte es sich ja nicht entwickelt. Also spekuliert man weiter über den Nutzen der Religion im Kampf ums Überleben. Das wissenschaftliche Ziel dieser Gruppe ist klar gegen den Glauben an Gott gerichtet. So formuliert der Biologe Edward Wilson: “Das endgültige Ziel des wissenschaftlichen Naturalismus wird erreicht sein, wenn es ihm gelingt, die traditionelle Religion, seinen Hauptkonkurrenten, als ein gänzlich materielles Phänomen zu erklären.” Im Klartext: Sollte erst einmal bewiesen sein, dass Gott lediglich eine im Hirn produzierte nützliche Erfindung für das Überleben des Menschen ist, kann kein vernünftiger Mensch mehr religiös sein.

Religiöses Auge im Kopf

So weit sind wir nicht – und so weit werden wir auch nie kommen. Menschen, die an einen Schöpfer glauben, können die wissenschaftlichen Entdeckungen nämlich genausogut für ihre Sicht der Dinge reklamieren. Das gibt selbst Radiologe Newberg zu: “Wenn es einen Gott gibt, macht es dann nicht absolut Sinn, dass er uns so geschaffen hat, dass wir ihn erfahren und mit ihm kommunizieren können?” Das bedeutet: So wie das Auge mit den entsprechenden Gehirnteilen uns befähigt, ein Haus oder einen Baum zu sehen, so befähigt uns eine bestimmte Hirnregion, Gott wahrzunehmen. Anders gesagt: Hinter der linken Schläfe hat jeder Mensch so etwas wie ein religiöses Auge. Über den Wahrheitsanspruch der verschiedenen Religionen lässt sich damit naturwissenschaftlich ohnehin keine Aussage machen. Selbst wenn verschiedenste religiöse Betätigungen im Gehirn dieselben elektrischen Wallungen und Durchblutungsmuster erzeugen müssen, so sind sie deshalb doch nicht in derselben Weise wahr und richtig. Ein Vergleich: Ob ich auf einem Rennrad oder auf einem Heimtrainer strample, löst körperlich dieselben Reaktionen aus. Doch nur mit dem Rad komme ich ans Ziel.

Religion – Folge der Vernunft

Auf die Fülle von Fehlschlüssen weist eine Flut von Leserbriefen hin, die den “Spiegel” nach seiner provozierenden Titelgeschichte “Der gedachte Gott – Wie Glaube entsteht” erreicht hat. “Klingt denn die Theorie, dass die Zehn Gebote das Resultat eines epileptischen Anfalls sind, wirklich vernünftiger als der Glaube, dass Jesus Christus Gottes Sohn ist?” fragt einer. Ein anderer wehrt sich gegen die Gleichsetzung von Religion mit Unvernunft und schreibt: “Religion beziehungsweise Religiosität ist entstanden, weil der Mensch fähig war zu denken und sich deshalb fragen konnte: Woher komme ich?” Am schönsten hat die fatalen Fehlinterpretationen einiger Wissenschaftler ein Schreiber aus Vaihingen in Baden-Württemberg blossgestellt: “Die Experimente der ‚Neurotheologen’ sind in etwa so sinnvoll wie das Zerlegen eines Fernsehgeräts auf der Suche nach Ulrich Wickert.”

Datum: 14.06.2002
Autor: Marcus Mockler
Quelle: idea Deutschland

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