Glaube kontra Vernunft?

TV-Doku über charismatische Gemeinde

Wieder eine Fernsehdokumentation über Charismatiker und wieder ein Resümee, das Unverständnis, vor allem aber Abwehr beim Zuschauer auslösen muss und zweifellos auch will.
Hans Jakob Rausch besuchte für den NDR die charismatische Gemeinde «The Way of Holiness».

Das gilt für den Film «Sieben Tage… unter radikalen Christen» von Hans Jakob Rausch und Martin Rieck vom Norddeutschen Rundfunk. Es werden bekannte Kritikpunkte genannt: Wörtliches Bibelverständnis, Ablehnung der Homosexualität, Glaube an Heilung etc. Vorgestellt wird die freikirchliche Gemeinde «The Way of Holiness» in Bietigheim-Bissingen (Nähe Stuttgart) unter der Leitung des Ehepaares Günter und Barbara Seifert. Der 30-minütige Film ist kein platter Verriss, er bemüht sich um eine Annäherung, wenn auch nicht konsequent.

Teilnehmende Beobachtung

Die Dokumentation hebt sich von anderen ab. Darstellung, Bilder und Schnitt sorgen für bemessenes Tempo und Eindrücklichkeit. Die Besonderheit: Hans Jakob Rausch ist in einigen Filmsequenzen von Gottesdiensten und Gebetsversammlungen zu sehen. Im Soziologendeutsch heisst das teilnehmende Beobachtung. Sieben Tage verbrachten er und sein Team mit der Gemeinde.

Rausch setzt sich der Frömmigkeit der kleinen Gemeinde aus, es sind dabei nie mehr als etwa 30, 35 Personen zu sehen. Er sitzt dabei und wirkt wie jemand, der nicht so ganz ins Bild passen will. Trotzdem ist dieses Miterleben-Wollen eine hervorhebenswerte Besonderheit und auch ein positiver, selbst gesteckter journalistischer Anspruch.

Ganz nah dran

Das war möglich, weil die Gemeinde dem Filmteam einen ganz nahen, scheinbar schrankenlosen Zugang ermöglichte: Da werden persönliche Segnungsgebete und Gemeindemitglieder, die Gott loben, frontal und in Grossaufnahme gezeigt. So hat der Filmzuschauer den Eindruck, dass er nur wenige Zentimeter danebensteht.

Eine Schwäche des Films ist, dass die Lebensberichte der Gemeindemitglieder nur mit wenigen Sätzen angesprochen werden. Das ist derart bruchstückhaft, dass es nicht nachvollziehbar sein kann. Vielleicht damit auch eine Bestätigung des Journalisten Rausch, der an anderer Stelle sagt: «Sie (gemeint ist das Pastorenehepaar) sammeln Menschen am Tiefpunkt ihres Lebens auf und binden sie an sich.»

Heilungsgebet und Sprache

Der Film spricht indirekt aber auch Aspekte an, die wichtig sind: Da wird beim Thema Heilungsgebet zu wenig darüber gesprochen, dass es nach Gebet auch keine Veränderungen gibt und dies zur Lebenswirklichkeit jedes Christen gehört. Wenn Günter Seifert dann auch noch sagt, dass er im Fall einer Krebserkrankung nicht zum Arzt gehen würde, stellt sich sicher auch bei vielen charismatischen Christen Unverständnis ein. Und dann ist da noch die Sprache des Pastorenehepaares, die für Aussenstehende befremdlich und sicher ein Hindernis ist.

Hans Jakob Reusch drückt sein Unbehagen über die Gemeinde aus, während er sich beim Joggen zu erholen versucht: «Diese Stimmung im Gottesdienst, die Gespräche mit den Seiferts – das schnürt mir die Luft ab. Alles was ich für richtig halte wird hier auf den Kopf gestellt.»

Kein wirkliches Gespräch

Breiten Raum nehmen in dem Film die Fragen von Hans Jakob Rausch an das Pastorenehepaar ein. Günter und Barbara Seifert erhalten Gelegenheit ihre Sichtweise zu erläutern, auch wenn in den geschnittenen Gesprächen deutlich wird, wie schwierig gegenseitiges Verstehen ist.

So sagt Rausch, es sei nicht zeitgemäss, dass Christen Pornos und Homosexualität ablehnten. Seine Hauptkritik aber ist, dass die gezeigte Gemeinde ein Glaubensverständnis habe, das mit Vernunftdenken nicht zu vereinbaren sei. Am Ende der Reportage meint Rausch: «Glaube und Vernunft gehören zusammen. In dieser Gemeinde habe ich eher den Eindruck, das schliesst sich aus.»

Nicht gestellte Fragen

So dominiert vor allem Unverständnis anstatt auch naheliegende Fragen zu stellen: Worin besteht die Attraktivität der kleinen Gemeinde? Was finden und erleben Menschen hier? Oder: Worin liegt die theologische und gottesdienstliche Bedeutung des Lobpreises, der so kennzeichnend für charismatische Gemeinden ist. Und: Welche Bedeutung und welchen Stellenwert haben Gefühle im Glaubensleben?

Schliessen sich Gebet und Vernunft aus?

Ausgesprochen distanziert zeigt sich die Reportage gegenüber der Gebetspraxis der Gemeinde. Wenn das Gebet um Heilung, aber auch das Gebet für Deutschland und für eine Erweckung (gemeint ist ein geistlicher Aufbruch im Land) so problematisch sind, dann wäre zu fragen: Wie sieht ein «vernünftiges» Gebet für Kranke in einer Kirchengemeinde aus? Oder: In welcher Weise sollten Christen für ihr Land und für Politiker verantwortlich beten?

Oder gehen die Autoren des Films davon aus, dass sich Vernunft und Gebet grundsätzlich ausschliessen? Das ist zwar eine mögliche Position, aber sie wäre auch mit weiten Teilen moderner Glaubensspiritualität und auch der Theologie der christlichen Kirchen kaum vereinbar und viel zu simpel.

Zur Gemeinde:
The Way of Holiness

 

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Datum: 23.03.2018
Autor: Norbert Abt
Quelle: Livenet

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