Reife Sexualität - oder: „Wenn Sex in die Jahre kommt!“

Einer der grösseren Städte der Schweiz wurde vor noch nicht allzulanger Zeit die fragwürdige Ehre zuteil, dass Beate Uhse eine ihrer einschlägigen Filialen eröffnete. Das gehöre zum ‘kulturellen Grundbedarf’ einer modernen Kommune und schliesse damit ein wichtiges Glied in der ‘kulturellen Versorgung’.

Nebenbei bemerkt: Soviel kulturelle Zuwendung haben wir garnicht verdient. Nun ist also ‘ganz unverdient’ dieser Sexshop in unserer Stadt, - und er kann offensichtlich existieren. Seine Lage ist auch nicht schlecht: an einem bekannten Platz in der Altstadt, umgeben von Kinos, Restaurants und Cafés.

Die Eröffnung fand in einem Winter statt. Frequenz: sehr zufriedenstellend. Doch dann kam der Sommer. Warme Tage, kurze Nächte. Links und rechts um Beate Uhse füllten runde Tische und Gartenstühle den Platz. Strassencafés und improvisierte Biergärten entstanden. Kinder schlürfen ihr Cola, Hausfrauen ihren Capuccino und und Geschäftsleute ihr Bier.

Und nebenbei konnte man verlegene, meist ältere Männer sehen, die irritiert zu Beate Uhse blickten, aber nicht den Mut aufbrachten, an den Durstigen vorbei in den Sexshop zu gehen, wo sie ‘ihren Durst’ stillen wollten.

Eine Zeitungsnotiz meldete nur, dass der Umsatz bei Beate Uhse in den Sommerwochen massiv gesunken sei deswegen. Zum Glück kam die Geschäftsführerin auf die gute Idee, eine Tür im Hinterhof als diskreten Zweit-Eingang zu öffnen. - Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg! Die Kommentare mancher Passanten oder Strassencafégäste waren aufschlussreich: „Die alten ‘Glüschteler’ (schweizerisch: kommt von ‘Gelüste’), kriegen die nie genug?“ - „Die sollten sich schämen, wo doch hier überall Kinder sind!“ - Oder eine Frau zur andern:“Hört das denn nie auf? Ich hoffe, dass meiner das nicht macht!“

Hört das denn nie auf?

Die Frage dieser Frau heisst ja ausformuliert wohl so: “Hört das Bedürfnis nach Sexualität nie auf? Kommt nicht irgendwann ein Alter, wo man ‘diese Krankheit’ überwunden, wo dieser Trieb entgültig befriedigt ist?

Wenn dies nur eine Frage von Frau Meier oder Frau Müller wäre,- dort auf dem Platz im Strassencafé vor Beate Uhse, könnte man vielleicht eine flotte Antwort geben. Kurz und bündig!

Aus der Eheberatung aber weiss ich, dass diese Frage,- in Nuancen abgewandelt - auf den Lippen vieler Frauen brennt. Auch, und gerade bei Christen. Dahinter könnten zwei Ursachen stecken:

Sexualität = notwendiges Übel!

Eine falsch verstandene, verengte christliche Anschauung von Sexualität , oder ganz allgemein eine moralisch verbogene Erziehung mag dahinterstehen. Da ist alles, was mit Sexualität zu tun hat, schon von vornherein mit dem Makel der Sünde, des Schlechten und Schmutzigen belastet. Der einzige legitime und auch notgedrungen unvermeidliche Grund für Sexualkontakt ist der Wunsch nach Kindern. Da macht man sich halt mal die ‘Finger schmutzig’. Ansonsten ist das Ganze eher peinlich und so rasch als möglich über die Bühne zu bringen. Das hört ja dann zum Glück nach dem letzten Wunschkind auf!

Neben einer verbogenen Sicht von Sexualität könnten freilich auch traumatische Kindheitserfahrungen von Vergewaltigung oder perverse Praktiken im Beziehungsumfeld Ursache solchen Verhaltens sein.

Sexualität = mehr Frust als Lust!

Auch bei einer ganzen Bejahung der Sexualität erlebt man den Geschlechtsakt längst nicht immer gleich. Da können Höhenerlebnisse von Frusterfahrungen abgelöst werden, da kann volle Befriedigung oder laue Begeisterung vorkommen. Einmal ‘glückt es’ voll und ganz, ein andermal verspürt man einen leichte Enttäuschung oder hat das Gefühl: heute kam ich nicht ganz auf meine Rechnung.

Wenn in einer Paarbeziehung aber in Sachen Sexualität der Frust immer beim gleichen Partner vorkommt und die Lust immer beim andern einkehrt, stimmt etwas nicht mit dem ‘Verteilerschlüssel’.

Erfahrungsgemäss liegt ja der Frust dann meist auf Seiten der Frau. Lustvolle Befriedigung ist für die Frau nicht allein oder erstlich im Geschlechtsakt. Für den Mann aber bedeutet allermeistens die Erektion und der Reizanstieg vorher als lustvoller Höhepunkt, der praktisch immer erlebbar ist und zur Erfüllung kommt.

Verständlich also die Frage vieler Frauen: „Hört denn das nie auf?“ Oder konkreter ausgedrückt:“Im Älterwerden ist dann ja wohl Schluss damit!?“

Andererseits erleben manche Frauen Sexualität nach der Lebensmitte erst richtig schön. Fragen der Verhütung spielen keine Rolle mehr, eine unerwünschte Schwangerschaft steht nicht mehr als Schreckgespenst hinter einem spontanen Geschlechtsverkehr. Meist sind die Kinder bereits ausgezogen, man ist wieder allein in der Wohnung und muss deshalb auch nicht sexuelle Begegnungen ausschliesslich in den Nacht- und Schlafzimmerbereich verbannen. Neue, phantasievolle Varianten des Intimverkehrs sind möglich.

Kommt Sex ‘in die Jahre’?

Hier müssen wir freilich differenzieren und klar beschreiben, was wir mit Sex meinen. Meinen wir Sexualität in ihrem umfassenden Sinne, - wir sind ja schöpfungsmässig gesehen in unserer Ganzheit eine sexuelle Persönlichkeit. Oder meinen wir nur die ‘Schmalspurvariante’, den sogenannten Sexualakt, den Geschlechtsverkehr.

Eine sexuelle Persönlichkeit sind und bleiben wir vom ersten bis zum letzten Tag unseres Lebens. Das nimmt uns ‘kein Doktor ab’! Die Möglichkeit des Geschlechtsverkehrs ist zeitlich etwas begrenzter. Da vergehen Jahre, bis die Geschlechtsreife erreicht ist. Im Älterwerden nimmt die Möglichkeit, den Geschlechtsakt zu vollziehen normalerweise nicht abrupt ab, aber das Bedürfnis, der Trieb und das biologisch-funktionale ‘Sturm- und Drang-Empfinden’ schwächt sich ab. Bei Frauen kann, - auch bei guten und schönen sexuellen Erfahrungen mit ihrem Mann - nach der Lebensmitte das Bedürfnis nach Geschlechtsverkehr durchaus auf ein Minimum zurückgehen oder gar verlöschen. Es muss nicht!

Beim Mann bleibt der Wunsch und das Bedürfnis nach gelebter Sexualität bestehen, auch wenn eine deutliche Abschwächung der Sexualkraft sich bemerkbar macht. Hier kommt für den Mann leicht die Versuchung hinzu, durch entsprechende Mittel (Hormonpräparate) die ‘alte Manneskraft’ (d.h. die Sexualkraft junger Jahre) zu erhalten oder wieder herzustellen. In dieser Phase kann es für den Mann durchaus ein Thema sein, durch perverse pornografische Literatur oder Videos oder durch eine Fremdbeziehung (z.B. zu einer viel jüngeren Frau) sich seine sexuelle Manneskraft zu beweisen. Ein Versuch, der Frust, Enttäuschung und Schuld im Gefolge hat.

Kommt mit den Jahren wieder Sex?

Eine merkwürdige Frage, -mögen Sie denken. Trotzdem: Kommt im Älterwerden noch einmal so etwas wie ‘ein zweiter Frühling’? Nun, wir können Jahreszeiten nicht zurückdrehen und wir können Lebensphasen nicht wiederholen. Die Sexualität wird sich im Älterwerden verändern. Es gibt nach der Silberhochzeit keine ‘zweite Hochzeitsnacht’! Es wäre fatal, wenn wir die Schönheit oder Qualität eines sexuellen Erlebens messen wollten an Erfahrungen vergangener Zeiten. Es gibt keine Wiederholungen und keine Kopien. Es gibt nur ‘Originalaufnahmen’!

Das Donnergrollen sexueller Hochdruckphasen und das stürmische Aufpeitschen triebhafter Brandungen liegen zurück. Sie hatten ihre Faszination und konzentrierten ihre ganze Leidenschaft auf die ihnen gegebene Zeit. Aber auf Sturm und Wetter folgen ruhige Tage. Die Sexualität im Älterwerden kann und darf,- wenn sie schon vorher in der Verantwortung und Liebe zueinander geschah,- zu jener Erfahrung werden, die wir -bildhaft gesprochen- als das ‘stille sanfte Säuseln’ bezeichnen könnten. Das schliesst echte Leidenschaft und Hingabe nicht aus. Sie misst aber die Qualität der Sexualität nicht mehr an der Häufigkeit und der seismografischen Eruption (‘Richterskala 10-11!), sondern an der Intensität der Gefühle und der Rücksichtnahme auf veränderte Bedürfnisse und Empfindungen des Partners.

Veränderte Bedürfnisse

Welche Bedürfnisse im Blick auf die Sexualität verändern sich denn im Älterwerden? Wir stellen zunächst fest, dass auch in dieser Beziehung ein Unterschied besteht zwischen Mann und Frau. Das Bedürfnis der Frau in Sachen Sexualität war von Anfang an geprägt von dem Wunsch nach einer ganzheitlichen Sexualität. Nicht nur der eigentliche Geschlechtsakt, sondern der ‘Anmarschweg’ ist ein wichtiger Faktor. Die Gefühls-Chemie muss stimmen. Zärtlichkeit und Verständnis, Zuwendung des Herzens sind dominierende Voraussetzungen. Wenn es dem Mann gelingt, diese Saiten zum Klingen zu bringen, wird die Frau auch den Paukenschlag des Intimverkehrs nicht als Missklang empfinden, sondern das emotionale Gesamtorchester als wohlklingendes Konzert erleben.

Dieses Bedürfnis der Frau verändert sich auch nicht im Älterwerden.

Dieses Bedürfnis hat grundsätzlich auch der Mann. Bei ihm wird es nur allzuoft überlagert und verdrängt von den drängenden Trieben der Hormone. Dieses oftmals geradezu Fixiertsein auf die Entladung, das bei der Frau den Eindruck entstehen lässt: er will ja nur seine Befriedigung,- erfährt sicherlich im Älterwerden eine Abschwächung. Aber es verliert sich nicht. Es kann nicht. Es gehört zur männlichen Sexualität. Es wäre deshalb wichtig, dass jede Frau diese Seite der männlichen Sexualität nicht im abwertenden Sinne als ‘niedrige Triebbefriedigung’ deklariert und dem Manne sogar als Vorwurf präsentiert.

Der Mann aber darf sich nicht hinter seinen ‘biologischen Grunddaten’ verschanzen und das nicht-Berücksichtigen der fraulichen Bedürfnisse mit seiner männlichen Triebkraft entschuldigen.

Die geschlechtsspezifischen Bedürfnisse in der Sexualität können im Älterwerden durch das Abnehmen der Sexualkraft und durch das Zunehmen des Verständnisses füreinander eine Annäherung erreichen, die für beide Partner als wohltuend und beglückend erfahren wird.

Das Abnehmen der Sexualkraft bedeutet aber nicht eine Abnahme des sexuellen Bedürfnisses. In dieser Lebensphase des Älterwerdens wäre es deshalb wichtig für jedes Paar, dass man offen darüber spricht über die Wünsche, Vorstellungen und Bedürfnisse in Sachen Geschlechtsverkehr. Ebenso notwendig ist aber auch das Gespräch über eventuelle Ängste und Vorbehalte, die man gegenüber sich, seinem Körper und gegenüber dem Körper des Partners hat.

Der Körper des älteren Menschen kann längst nicht mehr mithalten mit den oft fragwürdigen Kriterien einer sexbetonten Gesellschaft. Wo pralle Brüste, ein knackiger Po und ein ‘geiler Schwanz’ die höchste Attraktivität im Sexualverkehr darstellen, ist man freilich über Fünfzig ein hoffnungslos unbedarfter Gruftie.

Es gehört aber zum Vorrecht des Älterwerdenden, dass man beim Partner nicht nur die Attribute äusserlicher Attraktivität wahrnimmt, sondern auch andere Werte an Gewicht gewinnen. So kann auch ein schlaffer Busen und die schrumpelige Haut des Gliedes für den Partner ‘schön’ sein, wenn beide die körperlichen Veränderungen annehmen und bejahen und durch Zärtlichkeiten eineinander zum Ausdruck bringen: Wir geniessen uns, unsere Sexualität so, wie es jetzt in dieser Lebensphase für uns möglich ist.

Datum: 05.04.2002
Autor: Vreni und Dieter Theobald

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