Edmund Stoiber

„Als Christ erlebt man immer wieder die eigene Fehlbarkeit"

Edmund Stoiber
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Ich bin in einer Familie mit einer sehr gläubigen Mutter aufgewachsen, deren Vorbild und Einstellung mich tief beeindruckt haben. Der regelmässige Besuch im Gottesdienst und die Feier der kirchlichen Hochfeste waren für mich und meine Geschwister selbstverständlich.

Darüber hinaus bin ich von den christlichen Traditionen unseres Landes und vom kirchlichen Leben geprägt, das damals in den fünfziger Jahren bei uns auf dem Land in der kleinen Gemeinde Oberaudorf in Oberbayern, in der ich aufgewachsen bin, den Alltag noch sehr bestimmte.

Diese innere Bindung an das Christentum habe ich mir bewahrt. Für mich bedeutet Christ zu sein, sich zu Werten zu bekennen wie der Nächstenliebe, der Toleranz und dem Respekt vor dem Mitmenschen, der Verantwortung für die Gemeinschaft, sowie auch mit Zuversicht über die Gegenwart hinauszudenken und langfristige Perspektiven zu sehen. Als Christ erlebt man freilich immer wieder auch die eigene Fehlbarkeit. Aber aus dem Evangelium schöpft man auch die Kraft, täglich von neuem sein Leben an den christlichen Grundwerten auszurichten.

Natürlich stellt sich die Frage, inwieweit ein Politiker dem Anspruch des Christlichen überhaupt gerecht werden kann. Das Evangelium enthält keine politischen Handlungsanweisungen, aber es gibt die Richtung vor. Eigenverantwortlichkeit, Solidarität, Gerechtigkeit - diese Werte sind für mich Richtschnur und Kompass politischen Handelns.

Ich sehe den Anspruch des Christlichen in der Politik darin, dass die Botschaft des Evangeliums als ständiger Ansporn wirkt, höchste Massstäbe zu setzen und glaubwürdig zu bleiben. Glaubwürdig sein und bleiben bedeutet, sich um den Einklang von Anspruch und Lebensvollzug zu bemühen. Unter diesem Aspekt sehe ich auch die Programmatik der C-Parteien. Wir haben nie für bestimmte Klassen oder Schichten Politik gemacht, sondern immer für die Menschen mitten im Leben. Christliche Politik ist Politik für die Solidarität mit den Schwächeren und den Behinderten in unserer Gesellschaft.

Gewiss: In den vergangenen Jahrzehnten haben sich auch in Bayern die traditionellen religiösen Bindungen gelockert. Für mich als Christ wie auch als Politiker aber ist nach wie vor das Wirken der Kirchen in unserer Gesellschaft unverzichtbar, etwa in der kirchlichen Jugend- und Sozialarbeit und im Religionsunterricht. Wenn der Staat die Kirchen in ihrem Bemühen um eine christliche Grundorientierung unserer Gesellschaft unterstützt, dann tut er dies im Bewusstsein, dass Politik und Kirchen trotz ihrer jeweils unterschiedlichen Aufgaben gemeinsam auf humane Lebensumstände für die Menschen hinwirken.

Wir leben heute in einer Zeit, in der der tief greifende Wandel in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft bei vielen Menschen Angst und Unsicherheit auslöst. Als Christ begegne ich Veränderungen mit Zuversicht und einer optimistischen Grundhaltung. Gerade Christen können mutig den gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen stellen. Denn christliches Leben ist grundsätzlich von Hoffnung getragen.

Angesichts der gravierenden Veränderungen der deutschen, europäischen und globalen Rahmenbedingungen gewinnen Fragen nach dem Sinn des Lebens und nach einer Lebensgestaltung in persönlicher und sozialer Verantwortung einen zunehmend höheren Stellenwert.


Edmund Stoiber ist bayerischer Ministerpräsident und Vorsitzender der CSU. Er wurde 1941 in Oberaudorf, Kreis Rosenheim, geboren.
Webseite: www.stoiber.de

Datum: 10.04.2002
Autor: Edmund Stoiber
Quelle: Welt am Sonntag

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