“Geheilt an Haut, Knochen – und im Schädel”

Erich Esch
Erich Esch
Erich Esch

Hamburg. “Jesus für St. Pauli” steht auf der blauen Schirmmütze von Erich Esch. Doch die Menschen im Hamburger Sternschanzenviertel haben den Slogan geändert. Sie nennen Esch den “Jesus von St. Pauli”. Seit 1999 arbeitet Esch als Sozialarbeiter für das Jesus-Center, das von landes- und freikirchlichen Gemeinden in Hamburg getragen wird. Am Vormittag macht Esch Hausbesuche bei ehemaligen Obdachlosen, denen er eine Wohnung vermittelt hat, nachmittags betreut er einen Kiosk, der Anlaufstelle für Alkohol- und Drogenabhängige ist.

Fast täglich telefoniert Esch mit der Sozialbehörde und christlichen Werken, beratschlagt über Wohnungsunfähigkeitsbescheinigungen und Entgiftungen. Für Steve, einen drogenabhängigen Jungen, ist ein Therapieplatz freigeworden. Steve hat weder Wohnung noch Telefon; das Geld, das er für den täglichen Kokskonsum braucht, bettelt er sich zusammen. Esch muss Steve finden, irgendwo auf den Strassen in Hamburg.

Hausbesuch mit drei Rollen Tapete

Die Wohnung eines Mannes, den Esch betreut, muss geräumt und von Läusen befreit werden. Zwei andere haben die Miete nicht gezahlt, Esch will sie zur Rede stellen. Er klingelt lange, keiner öffnet. Schliesslich schreibt er einen Zettel, den er in den Briefkasten wirft: “Moin Jungs! Ich war heute hier und möchte mich dringend mit euch unterhalten. Ganz wichtig!” Einem anderen ist beim Renovieren die Tapete ausgegangen. Die Zimmer der Wohnung sind leer, manche Wände kahl. “Ich bring dir beim nächsten Mal drei Rollen Tapete mit”, verspricht Esch.

Vom Erzieher missbraucht

Es gebe nur zwei Möglichkeiten, süchtigen Menschen zu helfen, sagt Esch. “Entweder man kriegt sie im ersten Stadium zu fassen, wenn sie abzurutschen beginnen. Oder erst am Ende, in der Phase der totalen Hilflosigkeit.” Esch hat selbst erfahren, wie es ist, ganz unten zu sein. Seine Kindheit verbringt er in der Waisen- und Missionsanstalt Neuenkirchen, Namen und Geburtstag gibt ihm das Jugendamt. Von einem Erzieher wird er wiederholt missbraucht, schon mit neun beginnt er zu trinken, Farbstoffe und Benzin zu schniefen. Immer wieder beginnt er Entgiftungen, jedesmal wird er rückfällig. Er handelt mit Drogen, arbeitet als Zuhälter und verbringt insgesamt elf Jahre im Gefängnis. Einmal haut er im Streit einem Trinkkumpan einen Barhocker so lange auf den Schädel, bis der sich nicht mehr bewegt. Das Gericht entscheidet auf Körperverletzung mit Todesfolge. 1978 wird er obdachlos, lebt 15 Jahre lang auf der Strasse.

Herztabletten und eine Pulle Korn

1994 ist sein Leben zu Ende. Drogen- und alkoholabhängig, geplagt von Leberzirrhose und Magengeschwüren, beschliesst Esch, sein Leben mit “Herztabletten, Betablockern und einer Pulle Korn” zu beenden. Doch jemand findet ihn, er kommt auf die Intensivstation, liegt im Koma. Ein Arzt erzählt ihm später, Esch habe ständig gebetet. “Lieber Gott, wenn es dich gibt, lass mich eine neue Kreatur werden”, soll er gesagt haben. Gott erhörte die Bitte. Von den Schäden in Eschs Körper bleibt nichts zurück. “Meine Bekehrung war wie der Schleudergang in einer Waschmaschine.” “Ich bin ein geheilter Mensch. Geheilt an Haut, Knochen, Blut – und im Schädel.” Eine Patientin auf seiner Station lädt ihn zum Gottesdienst ihrer Baptisten-Gemeinde in Gütersloh ein. Esch folgt der Einladung und lässt sich taufen. Mit Hilfe der Gemeinde bekommt er Wohnung und Arbeit. Vier Jahre später ist der Leiter des Jesus-Center in Eschs Gemeinde zu Gast und erzählt von der Arbeit im Schanzenviertel. Esch zieht nach Hamburg und wird Sozialarbeiter. Ohne Ausbildung, aber mit einer Lebenserfahrung, wie sie kaum ein Pädagoge hat.

Szeneviertel und Armutsgebiet

Das Schanzenviertel ist eine seltsame Gegend. Die Stadt hat es als “Sanierungs- und Armutsbekämpfungsgebiet” ausgewiesen. Die Bebauungsdichte liegt über den zulässigen Grenzwerten, fast jedes zweite Kind wird von nur einem Elternteil erzogen, das Einkommen liegt zwei Drittel unter dem Hamburger Durchschnitt. Neben der Gegend rund um den Hauptbahnhof ist das Schanzenviertel die zweite Anlaufstelle für Drogenabhängige.

Und dennoch ist kaum ein Stadtteil so anziehend wie dieses. Zahlreiche Internetfirmen und Medienunternehmen haben sich niedergelassen, viele Häuser werden saniert. Studenten essen hier in Restaurants ihr Frühstück, im Sommer sitzen sie bis in den späten Abend draussen beim Bier.

Spritzen auf Kinderspielplätzen

In der gleichen Strasse, nur wenige Meter weiter, befindet sich ein Lokal ganz eigener Art. Im Schaufenster steht ein riesiger Plastikeimer, bis oben gefüllt mit Spritzen. “Seit Jahresbeginn wurden hier im ‚Fixstern’ 245 dieser 60 Liter Behälter durch Fachpersonal entsorgt”, kündet stolz ein Schild. Eine merkwürdige Meldung einer kaputten Welt. Denn der “Fixstern” gibt kostenlos Spritzen für den Drogenkonsum aus. Und es ist tatsächlich ein Erfolg, von dem hier berichtet wird: Früher lagen die Spritzen in Hausfluren und auf Kinderspielplätzen.

Eine riesige Hilfsindustrie hat sich im Kiez etabliert. Ein Verein bietet “Hilfe für Kinder und ihre drogenabhängigen Eltern”, es gibt betreutes und begleitetes Wohnen, Sonderausbildungs- und Therapieplätze, Quartiersmanager und eben Erich Esch.

Wer mit ihm durch die Strassen geht, bekommt einen anderen Blick auf Hamburg. Esch kennt die Plätze, wo sich Junkies ihren Schuss setzen; die Hinterhöfe, in denen sich Dealer vor der Polizei verstecken, und die Orte, an denen Menschen sterben.

Das Mädchen von der Parkbank

Einmal fand er ein junges Mädchen auf einer Parkbank. Es war völlig verschmutzt, konnte nur noch unverständlich reden und hatte an den Beinen offene Wunden. Wenn es sich fortbewegen wollte, musste es kriechen. Selbst Junkies hielten Abstand zu ihr, schmissen ihr von weitem ihre fast leeren Spritzen zu, deren Reste das Mädchen dann für sich verwendete. Esch sass zweieinhalb Tage neben ihr, brachte ihr Tee und Brote, bis sie bereit war, mit ihm ins Krankenhaus zu gehen. Heute arbeitet sie in der Wäschekammer eines diakonischen Hauses.

Nicht jeder schafft es, Hilfe anzunehmen. Manchmal sagt Esch den Leuten, sie sollen nochmal “zurück in den Müll” gehen. “Erst wenn sich dann die Hand ausstreckt, können wir zugreifen.” Er kennt den Hass auf sich selbst und den Hass auf die Menschen, er weiss wie skrupellos Süchtige sein können. “Ich habe mit meinen Helfern gespielt, um Geld gebettelt, sie ausgenutzt”, erinnert er sich an die Zeit seiner eigenen Abhängigkeit.

Drei-Gänge-Menü für Obdachlose

Zum Mittag geht er ins “Café Augenblicke” im Jesus-Center. Dort geben ehrenamtliche Mitarbeiter jeden Tag ein Drei-Gänge-Menü für Obdachlose und Bedürftige aus. Salat, Kartoffelauflauf und Pudding kosten 1,20 Euro, und aus zwei grossen Plastebehältern können kostenlos Brötchen mitgenommen werden.

Auch Steve ist gekommen, mit Rucksack, Schlafsack und Iso-Matte. Er sitzt am Tresen und löffelt in einem wahnsinnigen Tempo Joghurt. Esch geht zu ihm hin, sagt ihm, dass er einen Therapieplatz bekommen kann, Abfahrt heute nachmittag mit dem Zug, 16 Uhr. “Erich, das geht mir alles zu schnell”, sagt Steve, und damit ist das Gespräch auch schon zu Ende.

“Komm, lehn dich an und heul”

Nach dem Essen packt Esch einen kleinen Koffer auf Rädern und läuft zum S-Bahnhof Sternschanze. Dort hat das Jesus-Center einen Kiosk übernommen, der seit Jahren in der Szene als Anlaufstelle gilt. Schon morgens um sechs stehen die ersten da, die letzten gehen gegen Mitternacht. Jeden Tag öffnet Esch mit einer ehrenamtlichen Helferin von 13 bis 17 Uhr den Kiosk, kocht Kaffee und macht Würstchen heiss. Bevor er das Schiebefenster des kleinen Ladens öffnet, betet er für die Männer, die am Kiosk stehen. Dann geht er raus und stellt sich zu den Leuten. Er hört sich an, wer gestern festgenommen wurde, wer krank ist und wer eine Wohnung in Aussicht hat. Wenn einer Sorgen hat, sagt er einfach: “Komm, lehn dich an und heul.”

Mit Bierbüchse vor Gott treten

“Behandelt die Menschen, wie ihr selbst von ihnen behandelt werden wollt”, steht auf einem Blatt Papier, das am Kiosk angebracht ist. Darunter wird darauf hingewiesen, dass das Dealen und Konsumieren von Drogen in Kiosknähe verboten ist. Doch daran hält sich keiner. Die Gäste trinken Büchsenbier, der süss-herbe Geruch einer Haschisch-Zigarette liegt in der Luft, und heimlich werden kleine Drogendeals geschlossen. “Ich komme nur über Alkohol an die Leute ran”, sagt Esch. Man könne auch mit Bierbüchse vor Gott treten.

Lügen, Wahrheit und Streit

Die Leute erzählen sich ihre Lebensgeschichten, belügen sich oder sagen die Wahrheit, sie streiten, und manchmal schlagen sie sich. Aber sie sind nicht allein. Im Sommer werden Tische und Bänke rausgestellt, und Esch gibt Würfel-, Schach- und Mühlespiele aus. Manchmal, wenn jemand gestorben ist und keine Angehörigen zu finden sind, hält er auf dem Platz eine Trauerfeier. “Erich ist ein Guter”, sagt einer der Trinker, “der passt in die Welt.”

Es sind erwachsene Männer, die an Eschs Kiosk stehen, grosse, ungeliebte Kinder, die nie ins Leben gefunden haben oder denen es plötzlich entglitten ist. “Jeder zeigt mit dem Finger auf uns. Wir sind die Penner, Wichser, Alkis”, sagt ein Mann mit bayerischem Akzent. Manche der Männer haben noch Wohnung und Arbeit, anderen bleibt nur die Sozialhilfe, einigen nicht einmal das. Vor allem Männer die im Kinderheim aufwuchsen, sind unter den Trinkern, aber auch ein Psychotherapeut und ein ehemaliger Staatsanwalt. Und Esch steht bei ihnen. Er redet wenig, stellt keine Fragen. Er hört einfach nur zu. Und dann fragen die Männer manchmal nach Gott.

Datum: 13.01.2003
Quelle: idea Deutschland

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