15 Jahre Generation MTV

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Seit dem Bestseller von Florian Illies weiss ich, dass ich zur Generation “Golf” gehöre: jenen zwischen 1965 und 1975 Geborenen, deren Kindheitserlebnisse so unspektakulär waren wie der titelstiftende VW-Kleinwagen. Meine persönlichen Fernseh-Favoriten hiessen “Pumuckl”, “Dallas” und “Formel Eins” - nicht der PS-Sport, sondern das Musikvideo-Magazin. Die Bildästhetik der Dreiminuten-Clips war noch ziemlich krude, die Tanzakrobatik von Madonna und Michael Jackson noch ziemlich züchtig. Ab und zu gab es einen kalkulierten Tabubruch, zum Beispiel als David Bowie 1984 im “China Girl”-Video ein paar Sekunden lang textilfrei am Strand herumtollte. Die ARD hatte einen kleinen Skandal und wir Teenager unseren Pausenhof-Gesprächsstoff.

Mutter aller Musiksender

Irgendwann Ende der achtziger Jahre startete in Deutschland dann ein Kanal, der rund um die Uhr Musikfilme abspulte. Keiner meiner Kumpels hatte Kabelanschluss. Deshalb verpassten wir alle den Moment, an dem ein neues Medienzeitalter geboren wurde: die Ära von “MTV”, der Mutter aller Musikfernsehsender.

Heute haben die meisten Zuschauer den Jugendkanal zwar nur auf einem der hinteren Programmplätze abgespeichert. Weltweit ist MTV aber die Nummer eins, eingeschaltet von einer Milliarde Menschen in über 160 Ländern. Die Fan-Gemeinde des Nachrichtensenders CNN ist nur halb so gross. Es gibt eine lateinamerikanische Version von MTV, eine australische, eine indische, eine japanische und natürlich eine deutsche. “MTV Deutschland” feiert in diesem Jahr seinen 15. Geburtstag. Längst werden nicht nur Musikvideos gesendet, sondern auch Shows und Serien. Die Aktionäre haben allen Grund zur Euphorie – bei Gewinnsteigerungen von 20% im Jahr – bei einem Niveauabfall ins Bodenlose.

Zuschauer zwischen 13 und 17

Zwischen der “Generation Golf” und der “Generation MTV” liegen nicht einmal zwei Jahrzehnte, in puncto Sittsamkeit aber Welten. Für freche Streiche ist heute nicht mehr Pumuckl zuständig, sondern Johnny Knoxville und die anderen Protagonisten der MTV-Mutprobenshow “Jackass”: Sie hechten kopfüber in Elefantenkot, schlagen sich gegenseitig mit Baseball-Schlägern in die Weichteile, wetteifern im Kotzen und Furzen. Und wer in den Achtzigern den “Dallas”-Familienclan für schädlich hielt, sollte erst gar nicht bei den “Osbournes” reinschauen, einer Doku-Soap über den Rüpel-Anhang von Ozzy Osbourne, Urvater des Okkult-Rock. Ganz zu schweigen von den Videoclips: Schon morgens um sieben, pünklich zum Kinderfrühstück, rappt der derzeit weltgrösste Superstar, Nelly: “Es wird heiss hier drin. Komm, zieh all‘ deine Klamotten aus! Baby, was soll‘s, ich kann meinen Saft nicht stoppen.” Fast 100 Sex-Szenen pro MTV-Stunde hat das amerikanische “Center für Medienangelegenheiten” (CMPA) gezählt: eine Frontal-Attacke auf die Hormone zumeist minderjähriger Zuschauer. Die durchschnittlichen MTV-Fans sind zwischen 13 und 17 Jahre alt.

Die Grenzen überschritten

Die deutsche MTV-Chefin Catherine Mühlemann gibt zwar zu: “Wir haben die Grenzen sicher ein bisschen überschritten”. Aber die Mittel werden eben vom Zweck geheiligt, und der ist klar definiert: “die Marktführerschaft zu erlangen und den Gewinn zu steigern”. Vor allem natürlich: den konkurrierenden Musikkanal “Viva” auszustechen mit immer grelleren Reizen, immer dreisteren Provokationen. Hauptsache, die Kinder und Jugendlichen schalten ein und schaffen damit ein attraktives Umfeld für die Werbekundschaft. Denn darum geht’s bei MTV alleine: Zeug verkaufen. Jedes Musikvideo ist ein kleiner Werbefilm. Ohne “Airplay” auf MTV schafft es kaum noch eine Platte in die Hitparaden. Aber auch Jeans, Parfüms, Akne Créme werden kräftig beworben.

Die reine Konsumgier erzeugen Kult-Shows wie “Access all Areas” (dt: Zutritt zu allen Bereichen). Hier zeigen luxusverliebte Popstars stolz her, was sie sich vom Taschengeld ihrer Fans alles leisten können: Designer-Klamotten, Protz-Möbel, dutzendweise Ferraris und Porsches. Auch hier zahlt sich aus, dass die Zuschauer noch jung sind: Kinder und Jugendliche mit reichlich Kohle (alleine in Deutschland rund 40 Milliarden Euro im Jahr), aber ohne feste Markenloyalität, ohne klare Geschmacksausrichtung. Manipulierbar eben. “Teenager sind das, was vor hundert Jahren Afrika war”, sagt der Kommunikationswissenschaftler Robert McChesney: “ein riesiger, rohstoffreicher Kontinent, der kolonialisiert werden soll”. Um immer nah am Nerv des pubertierenden Publikums zu sein, beschäftigt MTV Hunderte von “Trendscouts”. Sie erforschen, was in der Jugendszene angesagt ist, um es dann, angereichert durch Werbebotschaften, unterlegt mit einem fetten Groove und mit über 100 Dezibel an die Jugend zurückzudröhnen.

Wechselseitige Vermarktung

Eine veritable Goldader, eine Bonanza! Und die Schürfrechte hat ein Mann, der das deutsche MTV-Programm vermutlich noch nie eingeschaltet hat. Sumner Redstone. Er ist der Geschäftsführer des US-Mediengiganten Viacom. Ihm gehören auch noch die populären US-Fernsehsender CBS, Nickelodeon und Showtime, ausserdem die Kinoproduktionsfirma Paramount, die weltgrösste Videoverleihkette Blockbuster, mehrere Vergnügungsparks, Hunderte von Radiostationen, Plattenfirmen, Zeitschriften und Buchverlagen. Grösse ist gut fürs Geschäft, denn mit einer langen Verwertungskette können die einzelnen Produkte viel effektiver wechselseitig vermarktet werden. Wenn Paramount einen Film produziert, macht MTV Gratis-Werbung: nicht nur für den Film, sondern auch für die dazugehörigen Soundtracks, Videospiele und Spielzeugfiguren. In derselben Liga wie Viacom spielen nur noch wenige andere Mega-Konzerne, vor allem AOL Time Warner, Disney und Vivendi Universal, denen übrigens der MTV-Rivale “Viva” gehört. Sie alle verfügen über die Reichweite und das Budget, um Kinder von Passau bis Patagonien gezielt anzusprechen.

Einsam und orientierungslos

Und niemand ist da, der sich schützend zwischen den Nachwuchs und den neuen Konsumnihilismus stellt. Die 68er Studentenrevolutionäre, die erfolgreich Eltern, Pfarrer und Lehrer als Autoritätsinstanzen abschafften, haben ihre eigenen Kinder jetzt genau da, wo der Markt sie will: einsam, orientierungslos, offen für alles, was gefällt. Die aktuelle Shell-Studie spricht von “Ego-Taktikern”, deren Ideale oftmals nur um den eigenen gepiercten Bauchnabel kreisen. Die MTV-Macher, genau wie die Viva-Verantwortlichen oder die Herausgeber des selbsternannten Jugend-Organs “Bravo”, verstärken diesen Trend nach Kräften. Je mehr sich die Heranwachsenden als autonome Entscheider fühlen, als unabhängige Konsumenten, desto weniger werden sie sich von Erwachsenen in ihre Kaufentscheidungen reinreden lassen.

Eltern sind Spiesser und Spassbremsen, so die subtile Botschaft, richtig zu Hause seid ihr nur bei uns. In diesem Kontext spielt der christliche Glaube keinerlei Rolle. Wurde die “Generation Golf” schon in ein religiöses Brachland hineingeboren, lebt die “Generation MTV” endgültig in der Wüste. Aber auch da gibt es bekanntlich Oasen. Und damit sind nicht die Werbepausen gemeint.

Datum: 03.10.2002
Autor: Markus Spieker
Quelle: idea Deutschland

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